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Stuttgarter unikurier Nr. 87 April 2001
Forschung im Maßstab 1:1 - Ein Besuch in Denkendorf :
Von der Faser bis zum Produkt
 

Autositze und temporärer Leberersatz, Mikrofilter und Skianzüge, eine künstliche Hirnhaut oder Reinraumkleidung. Auch auf den zweiten Blick ist nicht zu entscheiden, wo hier die Gemeinsamkeiten bestehen. In einem Gespräch mit dem Ordinarius der Universität Stuttgart und Leiter des Denkendorfer Instituts für Textil- und Verfahrenstechnik, Prof. Dr. Heinrich Planck, wird jedoch schnell klar, daß es sich um Einsatzgebiete moderner technischer Textilien handelt. Und technische Textilien sind eine Wachstumsbranche im produzierenden Gewerbe, die einen Vergleich mit dem Handel auf den virtuellen Marktplätzen nicht zu scheuen braucht. Mit Wachstumsraten von 25 Prozent im Jahr rechnen die Experten, sagt Planck.

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Das ITV ist eines der drei Institute der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Stuttgart, Stiftung des öffentlichen Rechts mit Sitz in Denkendorf, die vor 80 Jahren gegründet wurde. Auch die damalige Technische Hochschule Stuttgart stand damals bereits Pate. Mit ca. 240 Mitarbeitern und einem Haushalt von über 30 Millionen Mark gehört das ITV europaweit zu den größten Einrichtungen auf dem Gebiet der Textilforschung. Und dabei handelt es sich fast vollständig um Drittmittel, also auftragsbezogen eingeworbene Gelder der öffentlichen Hand und der Industrie. Aber nicht nur quantitativ gehört man international zur Spitzengruppe, erläutert Professor Planck nicht ohne Stolz. Die Sonderstellung rührt vor allem daher, daß in Denkendorf von der Faserproduktion bis zum marktreifen Produkt alle Bereiche der textilen Fertigung interdisziplinär erforscht werden können. Und wenn es sein muß, auf technischen Anlagen im Produktionsbetrieb im Maßstab 1:1. Es war deshalb nicht verwunderlich, daß im Sommer des vergangenen Jahres das ITV von der Region Stuttgart mit dem Gütesiegel „Kompetenzzentrum Technische Textilien“ ausgezeichnet worden ist.

Überall im Einsatz
Nahezu jeder benutzt Technische Textilien, ohne sich dessen bewußt zu sein: als Funktionskleidung für Sport und Freizeit und im Auto sind jede Menge High-tech-Fasern im Einsatz. Der Skianzug und der Autositz transportieren die Feuchtigkeit, das Fahrzeuginnere erhält mittels durchgestylter Textilien eine angenehme Akustik, Faservertärkte Hydraulikleitungen werden auch zur Geräuschdämpfung der Hydraulik oder im ABS-Regelkreis eingesetzt und der Luftfilter sorgt über textile Strukturen in Kombination mit Aktivkohle für sichere Geruchsabsorption. Und nebenbei fällt dann als spin-off der Forschung an der Reinraumkleidung noch ein Matratzenschoner für Allergiker ab oder man entwickelt Textilien mit elektromagnetischer Schutzwirkung z.B. für den Handy-Benutzer. Zu den Highlights der letzten Jahre zählt der Denkendorfer Institutsleiter unter anderem die Entwicklung neuer Faserspinnverfahren, mit denen Fasergarne maßgeschneiderte Strukturen und Eigenschaften erhalten.

Wachstumsbranche Biomedizintechnik
Dann gibt’s in Denkendorf noch den Bereich der Biomedizintechnik. Inzwischen arbeiten hier rund 50 Mitarbeiter auf diesem hoch innovativen Forschungsgebiet der Biomaterialien und künstlichen Organe. Es sei eine Tendenz in der Medizin erkennbar, sagt Planck, geschädigte Organe nicht mehr durch künstliche zu ersetzen, sondern die körpereigene Regenerationsfähigkeit durch neue Werkstoffe oder durch Zellkulturtechniken funktionale Implantate zu entwickeln. Da sind etwa resorbierbare dreidimensional als Ohrmuscheln geformte Vliesstoffe, in denen man körpereigene Knorpelzellen des Patienten wachsen läßt, um einen Ohrmuschelersatz herzustellen. Zusammen mit Tübinger Medizinern arbeitet man in Denkendorf an einem temporären Leberersatz, der wie ein Bioreaktor die Leberfunktion über eine bestimmte Zeit übernehmen kann. Oder eine biohybride Bauchspeicheldrüse, in der Zellen soviel Insulin produzieren, wie der Patient braucht. Diese Arbeiten sind eingebunden in das Kompetenzzentrum Deutsches Zentrum für Biomaterialien und Organersatz Stuttgart-Tübingen (BMOZ), das von Professor Planck geleitet wird und an dem Institute und Einrichtungen der Stuttgarter und der Tübinger Uni sowie das Stuttgarter Marienhospital beteiligt sind.

Know-how stärken ...
Seit dem Ende der 80er Jahre sind die technischen Textilien auf dem Vormarsch. Da habe man erkannt, daß im Textil ein Einsatzfeld weit über die Bekleidung hinaus vorhanden sei. Die im Südwesten Deutschlands traditionell beheimatete Textilindustrie habe dadurch neue Chancen und ausgezeichnete Wachstumsmöglichkeiten erfahren. Da die Massenproduktion von textiler Bekleidung in den letzten Jahrzehnten in die Billiglohnländer ausgewandert ist, habe sich die heimische Textilindustrie auf ihre Stärken im Know-how besonnen. „Technische Textilien brauchen viel Erfahrung, Know-how beim Umgang mit High-tech-Materialien und Anlagen wie auch viel Kreativität, und das ist in den Billiglohnländern so nicht vorhanden“, sagt Planck.

... und erhalten
Aber das vorhandene Know-how hierzulande muß erhalten und ausgebaut werden. „Auch bei uns ist ‚Not am Mann‘ wie in anderen ingenieur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen“, bestätigt Planck, der über Vorlesungen und Praktika zum Themenkreis Textiltechnik, Textilmaschinenbau und Biomaterialien in den Lehrbetrieb der Universität eingebunden ist. „Wir wollen es positiv angehen und haben dazu zusammen mit Industriefirmen einen Förderverein gegründet, werben aktiv an den Schulen, laden Gymnasien zu Besichtigungen ein, beteiligen uns an Projekten in der Schule und unterstützen die Studenten finanziell.“ Und er merkt an, daß inzwischen technische Universitäten wie Aachen oder Dresden und einige Fachhochschulen in der Region Bachelor- und Masterstudiengänge für Textilingenieure / Textilmaschinenbauer anbieten. „Hier ist auch unsere Universität gefordert“, ergänzt Planck. Über ein Drittel der weltweit hergestellten Textilmaschinen stammen aus Deutschland. „Die Zukunftschancen sind für unsere Absolventen im Bereich der Textiltechnik und des Textilmaschinenbaus so gut wie selten zuvor. Die Internationalisierung der Ausbildung zeigt positive Nachwirkungen: Erst vor wenigen Tagen“, erzählt Professor Planck, „hat einer unserer ausländischen Absolventen, der jetzt in seiner Heimat im Ministerium arbeitet, bei uns um Unterstützung bei der Modernisierung der dortigen Textilindustrie nachgefragt.“ Das Wachstumsgebiet technischer Textilien soll demnächst in Denkendorf auch einen sichtbaren Ausdruck erhalten. Auf dem Tisch im Büro des geschäftsführenden Direktors steht ein Holz-Modell der Denkendorfer Institute, in das bereits ein mit zehn Millionen Mark veranschlagter Neubau für die Textiltechnik integriert ist, der vom Land Baden-Württemberg finanziert wird und in dem neue Textilmaschinen aufgebaut werden, die größten Teils von der Industrie gestiftet werden. /eng

KONTAKT
Prof. Dr.-Ing. H. Planck, Institut für Textil-und Verfahrenstechnik, Körschtalstr. 26, 73770 Denkendorf Tel: 0711/9340 216, Fax 0711/9340 261 e-mail: heinrich.planck@itvd.uni-stuttgart.de, www.itvd.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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