Home           Inhalt           Suchen

Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Neues Werkzeug für die Lebensmitteluntersuchung:
Biosensor spürt Reste von Neurotoxinen auf
 

Neurotoxine sind Substanzen, die Funktionen des Gehirns oder der Nerven schädigen und im Extremfall zum Tod führen können. Zur schnellen und sicheren Feststellung von Rückständen in Lebensmitteln der auch in der Landwirtschaft eingesetzten Gifte wurde am Institut für Technische Biochemie der Universität Stuttgart ein Biosensor entwickelt. Durch gezielten Einsatz von Protein-Design kann der Stuttgarter Biosensor Neurotoxine in Lebensmittelproben in Konzentrationen von einem Mikrogramm pro Kilogramm (entsprechend einem tausend Milliardstel Teil) aufspüren. „Wir erwarten, daß unser schnelles Testverfahren Lebensmittelherstellern ein Instrument an die Hand gibt, schon beim Einkauf Chargen mit einem erhöhten Gehalt an Neurotoxinen auszusortieren“, meint dazu Prof. Rolf Schmid, Direktor des Instituts für Technische Biochemie.

kleinbal.gif (902 Byte)
 

Neurotoxine sind äußerst effektive, aber gefährliche chemische Verbindungen. So sind bereits Spuren des Nervengifts Curare tödlich, wenn sie in die Blutbahn eines Säugetiers gelangen; die Amazonas-Indianer verwenden dieses aus der Pflanze Strychnos toxifera gewonnene Alkaloid deshalb als Pfeilgift. 

Einsatz in der Landwirtschaft
Neurotoxine sind aber auch wertvolle Fraßgifte in der Landwirtschaft. Obwohl die biblischen Heuschrecken-Plagen heute selten geworden sind, schätzt man, daß noch immer 50 Prozent der Welternten durch Insektenfraß zerstört werden. Unter den auf Insekten wirkenden Neurotoxinen nehmen die nach ihren chemischen Grundstrukturen benannten Gruppen der Organophosphate und Carbamate mehr als 70 Prozent ein; sie werden jedes Jahr in Mengen von einigen tausend Tonnen synthetisiert und in nahezu allen Ländern der Welt auf die Felder aufgebracht.
Organophosphate und Carbamate entfalten ihre neurotoxische Wirkung durch Hemmung des Enzyms Acetylcholinesterase, das bei der Nervenreizleitung eine eminent wichtige Rolle spielt: es zerstört mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit den Botenstoff Acetylcholin, der die Erregung von einem Neuron an ein anderes weitergibt. Hemmt man das Enzym, so häuft sich Acetylcholin an und das gesamte Neuronensystem gelangt in einen Zustand der Übererregung. Wenn auch die in der Landwirtschaft verwendeten Neurotoxine eine besonders intensive Wirkung auf das Nervensystem von Insekten ausüben, so sind sie für den Menschen nicht ungefährlich - die Dunkelziffer von Vergiftungen durch diese Verbindungen wird von der American Association of Poison Control Centers auf mehr als zehntausend Menschen geschätzt, obwohl die maximal erlaubte Aufnahme dieser Stoffe in toxikologischen Regelwerken vorgeschrieben ist.
Glücklicherweise zerfallen Organophosphate und Carbamate, nachdem sie auf Pflanzen aufgebracht und ihrer Rolle als Fraßgift gerecht wurden, ziemlich schnell in ungiftige Folgeprodukte. In Proben von Grund- oder Oberflächenwasser konnte man deshalb diese Verbindungen nicht mehr finden. Anders sieht es allerdings bei der Analyse von Rückständen von Nahrungsmitteln aus. Man schätzt, daß etwa fünf Prozent aller Lebensmittel zu hohe Rückstände an Neurotoxinen aufweisen. Besonders kritisch muß das bei der Babynahrung gesehen werden, da aufgrund des geringen Körpergewichts und des noch nicht voll entwickelten Stoffwechsels zur Beseitigung von Schadstoffen bei Kleinkindern toxische Wirkungen nicht ausgeschlossen werden können. Die chemische Analyse von Lebensmitteln auf Neurotoxine ist allerdings sehr aufwendig und wird deshalb nur statistisch oder bei Verdachtsproben durchgeführt.

Protein Design
Der am Institut für Technische Biochemie der Universität Stuttgart entwickelte Biosensor macht sich die Wirkungsspezifität vieler Neurotoxine zunutze: durch Bestimmung der Aktivität des Enzyms Acetylcholinesterase in Gegenwart der untersuchten Nahrungsmittel kann die prinzipielle Anwesenheit dieser Gifte schnell überprüft werden. Die Wissenschaftler Dr. Till Bachmann, Dipl.-Chemiker Holger Schulze und Dipl.-Chemikerin Sandra Vorlova gingen mit den Methoden des sogenannten Protein Design noch einen Schritt weiter: sie benutzten anstelle des natürlichen Enzyms gentechnisch erzeugte Varianten, die von den Neurotoxinen unterschiedlich stark gehemmt wurden. Auf diese Weise konnten sie auf die An- oder Abwesenheit ganz spezieller Neurotoxine in der Probe schließen. Für eine derartige Mustererkennung sind Biosensoren besonders geeignet, wenn ihr Signalmuster mit neuronalen Netzwerken ausgewertet wird.

Konkurrenzlos schnell
Mit dem Stuttgarter Biosensor können noch Konzentrationen von einem Mikrogramm pro Kilogramm Probe (entsprechend einem tausend Milliardstel Teil) untersucht werden. Der Test dauert nur eine Stunde und ist konkurrenzlos schnell im Vergleich zu den üblichen chromatographischen Verfahren. „In Vergleichstests haben sich die Untersuchungen an der Universität Stuttgart als zielführend erwiesen“, meint denn auch Dr. Ellen Scherbaum, Laborleiterin am Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart.

Untersuchung von Baby-Nahrung
Mit dem Biosensor der Universität Stuttgart wurden mittlerweile in zahlreichen Baby-Fertiggerichten, bei manchen Rezepturen in jeder achten Probe, Neurotoxin-Konzentrationen nachgewiesen, die über die gesetzlich zulässigen Grenzwerte hinausgehen. Diese Messungen wurden fast ausnahmslos durch Überprüfung der auffälligen Proben im Untersuchungsamt bestätigt. Mit dem schnellen Testverfahren haben die Lebensmittelhersteller jetzt ein effektives Instrument, mit dem sie ihre Einkäufe vor der Weiterverarbeitung auf erhöhte Konzentrationen von Neurotoxinen überprüfen können. 
Der Neurotoxin-Sensor der Universität Stuttgart könnte auch für eine andere Prophylaxe nützlich werden: nicht selten sterben Tiere plötzlich an der Tränke, weil das Wasser Neurotoxine einer giftigen Algenart enthält. Im Rahmen einer von der Europäischen Union finanzierten Studie wies der französische Gastforscher Dr. Francois Villatte am Stuttgarter Institut nach, daß der Stuttgarter Acetylcholinesterase-Hemmtest per Biosensor auch als schnelles Alarmsystem für die Anwesenheit derartiger Algen-Toxine geeignet ist.

Kontakt
Prof. Dr. Rolf Schmid, Institut für Technische Biochemie, Allmandring 31
Tel. 0711/685-3192, Fax 0711/685-4569
e-mail: rolf.d.schmid@rus.uni-stuttgart.de

 


last change: 12.12.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt           Suchen