Stuttgarter unikurier
Nr. 88 Dezember 2001 |
Kulturtheorien (1): Norbert Bolz
Wozu noch Theorie? |
Mit Norbert Bolz und Friedrich A. Kittler hatte das Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie in Zusammenarbeit mit der Breuninger Stiftung und der Stadtbücherei im Sommer dieses Jahres zwei prominente Medientheoretiker im Rahmen der Vortragsreihe Kulturtheorien eingeladen. So unterschiedlich die Ansatzpunkte der Vorträge gewesen sein mögen, was beide einte, ist die Skepsis gegenüber den Geisteswissenschaften. Bei Norbert Bolz mündet sie in die Frage: Wozu noch Theorie? |
|
|
|
Gegenwartsphänomene fordern die heutigen Kulturtheorien in besonderer Weise heraus. Während bislang Zeitdiagnosen mit Theoriekonstruktionen verschränkt waren, welche die Phänomene sinnvoll zu integrieren wußten, hat sich nunmehr das Interesse verlagert: die Zeitdiagnosen münden in eine Destruktion von Theorie. Nicht mehr sichern Sinnfiguren erfüllter Zeit wie Geschichte, Fortschritt oder Identität die Ansprüche von Theorie. Auf geschichtsphilosophische Fundamente läßt sich nicht mehr bauen, um mit Theorie Praxis zu instruieren, gar zu reformieren. „Will theory stop?“
Diese Frage des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stanley Fish griff der Essener Designwissenschaftler und Medientheoretiker Norbert Bolz in seinem Vortrag „Jenseits der großen Theorien: das Happy End der Geschichte“ auf. Ausgehend von Beobachtungen auf den großen, vor allem medientechnischen Innovationsschauplätzen der Gegenwart entwickelte er Argumente gegen das traditionelle, dem Projekt der Moderne verpflichtete Theorieverständnis. Theorie sei niemals praxisrelevant im Sinne einer Handlungsanleitung. Theorien helfen nicht bei Entscheidungen, sondern allenfalls bei deren nachträglicher Begründung. Auf dem Feld praktischen Handelns gilt das „principle of minimum information“, nicht die elaborierte Berücksichtigung komplexer Zusammenhänge. Unter den Bedingungen moderner Informationstechnologien offenbare sich
im Raum der Weltkommunikation nun das eigentliche Maß zivilisatorischen „Fortschritts“: das, was Menschen zu denken erspart bleibt. Zwar basieren Neuerungen mehr denn je auf Wissen, aber dieses Wissen bewährt sich einzig in einer Darstellung, die zugleich Herstellung ist und operativen Kriterien genügt.
Aber können Wissenschaften ohne Theorie auskommen? Was, wenn nicht Theorie, ist der Motor von Innovationen? Bolz hält Theorie nicht für überflüssig. Er plädierte dafür, Theorie im Sinne von Michael Schrage als „serious play“ zu verstehen, als Spiel mit Prototypen, das Evidenzbewußtsein irritieren und eingefahrenen Denkmustern Alternativen bieten kann. Theorie muß die Praxis nehmen, wie sie ist, und kann dennoch zeigen, daß sie auch anders möglich wäre. Diese lose Koppelung öffnet sich der Ästhetik und Theorie; wird zur Beratung von Beratern.
E. Uhl
|
|