Stuttgarter unikurier
Nr. 88 Dezember 2001 |
Kulturtheorien (2): Friedrich A. Kittler
Weingeist und Weltgeist - Gabe und
Gegengabe |
Einst löste Hegel bei Friedrich A. Kittler einen Fluchtreflex aus: Kittler floh vor der Philosophie und einer drohenden Dissertation über Hegel, allerdings nur, um dann, als Literaturwissenschaftler und Medienspezialist, wieder in der Nähe Hegels zu landen, in Berlin an der Humboldt-Universität nämlich, als Professor für „Ästhetik und Geschichte der Medien“. Und so handelte sein Vortrag dann auch von „Goethes Gabe. Über griechische Kunst, deutsche Klassiker und Hegels Farbenlehre“. |
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Eine friedlich-traditionelle Annäherung an Hegel und Goethe konnte freilich nicht erwartet werden von demjenigen, der sich die „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ zur Aufgabe gemacht hat. Ausgetrieben wird der Geist zugunsten einer Aufdeckung der Mediensysteme, der „Aufschreibesysteme“, welche ihn produzieren. Der reichhaltige Titel birgt vielfältige Verweise - und macht neugierig, wie Kittler dieser Themenvielfalt wohl Herr werden mag. Die Gabe ist es, die Goethe und Hegel verbindet. Den Einstieg bildet Goethes dreifache Gabe an Hegel vom 13. April 1821, bestehend aus einem Karlsbader Becher, den „Nachträgen zur Farbenlehre“ und einem Grußwort. War das Trinkglas geeignet zum Genuß von Wein, so ließen Buch und Grußwort Hegel verstummen: „Dem Absoluten empfiehlt sich schönstens zu freundlicher Aufnahme das Urphänomen“. Der Gabentausch, auf welchem soziale Gemeinschaft beruht, wie Marcel Mauss in seinem Essay „Über die Gabe“ entwickelt, bleibt zunächst aus.
Eine Vielzahl an Gaben in Hegels Philosophie zeigt Kittler auf, nicht ohne vom Zuhörer gelegentlich gedankliche Purzelbäume zu erwarten. Und auch Goethes Gabe erweist sich als schon immer in Hegels Philosophie „verflochten“, eine Verflechtung, aus der dann schließlich Hegels Gegengabe an Goethe resultiert, eine Übertragung der Farbenlehre in eine Tonlehre. Hegel ist der Aufforderung der dreifachen Gabe nachgekommen und hat sich des empfohlenen Urphänomens angenommen. Äquivalent zum reinen Sein des Urphänomens Farbe deutet Hegel die physikalisch-mathematische Grundlage des Tons hinweg. Durch die Verschiebung des Akzents auf die Wahrnehmung, kann der Ton zum Urphänomen im Ohr des Subjekts werden.
Diese fehlende Anerkennung materieller Realität jenseits reinen Geistes und idealer Natur sieht Kittler den deutschen Geisteswissenschaften noch immer anhaften. Mit seinem Berliner Vorläufer Herrmann von Helmholtz prangert Kittler das mathematische Ungenügen von Goethes Farbenlehre an. Doch wird die Mathematik nicht nur in ihre Rechte versetzt, der Geist-feindliche Gestus wird in einer
polemischen Wendung in der abschließenden Diskussion zugespitzt und die Entstehung der europäischen Kultur aus der Mathematik behauptet.
C. Lund
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