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Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Anwalt für die Geisteswissenschaften:
August Nitschke 75
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Seinen 75. Geburtstag feierte am 18. September August Nitschke, Emeritus für mittelalterliche Geschichte am Historischen Institut. 34 Jahre lang lehrte er an der Universität Stuttgart: seit 1960 als außerordentlicher, seit 1965 als ordentlicher Professor in der Abteilung für Geisteswissenschaften und Bildungsfächer, seit 1970 als Direktor des neugeschaffenen Historischen Instituts. Nitschke setzte sich nachdrücklich für den Ausbau der Technischen Hochschule zur Volluniversität ein und trug maßgeblich zur Etablierung der Geisteswissenschaften an der Universität Stuttgart bei. Das Historische Institut verdankt ihm nicht weniger als sein Bestehen. Daß Studierende hier den Studiengang Geschichte studieren können, geht wesentlich auf sein Wirken zurück. Die Einrichtung des Studiengangs „Geschichte der Naturwissenschaften und Technik“ betrieb er ebenfalls erfolgreich. Der (damaligen) Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften diente er als Dekan (1968/69), der Universität zweimal als Prorektor (1970/71 und 1978/ 79). Wegen einer längeren Krankheit des früheren Rektors Blenke lagen die Amtsgeschäfte zeitweilig in Nitschkes Hand, und als langjähriges Mitglied des Senats setzte er Akzente.
Nitschkes frühe Arbeiten galten der Epoche des Investiturstreits, dem staufischen Sizilien und der Quellenkunde des 13. Jahrhunderts. Die Tätigkeit an einer Universität mit ingenieurwissenschaftlichen Traditionen und Schwerpunkten brachte ihn jedoch dazu, nach den historischen Bedingungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technischen Handelns zu fragen. Über Jahrzehnte hinweg hat er mit Erfolg das Gespräch mit den Natur- und Ingenieurwissenschaften gesucht. Fruchtbare Kooperationen in Form gemeinsamer Lehrveranstaltungen, Tagungen und Publikationen ergaben sich daraus. Die Beschreibung der physikalischen und biologischen Grundlagen geschichtlicher Existenz zog aber auch die Frage nach den anthropologischen Konstanten in der Geschichte nach sich. August Nitschke gehört zu den Begründern einer Historischen Anthropologie in Deutschland. Eine als Taschenbuch erschienene und damit in die Breite wirkende Einführung definierte schon 1981 deren Aufgaben und Ziele: die Eigenart von Gefühlen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen in früheren Epochen zu beschreiben und deren Wandel in der Geschichte zu ergründen. Auch mit zwei Funkkollegs (zur Methodik der Geschichtsforschung sowie zur Kultur der Jahrhundertwende 1900) wirkten Nitschkes methodische und sachliche Anregungen in eine breite Öffentlichkeit hinein. 
Früher als viele Fachkollegen stellte er sich auf den Standpunkt, daß die historische Forschung von den Einsichten der Ethnologie profitieren und die Analyse der Lebensformen und Denkweisen sogenannter einfacher Völker gerade für die Beschreibung der älteren Epochen in der europäischen Geschichte hilfreich sein könne. Das Studium der außereuropäischen Geschichte und daraus folgend: der interkulturelle Vergleich waren August Nitschke daher immer ein Anliegen. Leider wurde die Professur für Überseegeschichte nach dem Ausscheiden des Amtsinhabers nicht mehr besetzt, und die von Nitschke ins Leben gerufene Abteilung für Historische Verhaltensforschung fiel den Sparmaßnahmen im Rahmen des „Solidarpakts“ zum Opfer. Doch seine Anregungen wirken weiter.
Nitschke selbst hat sich in 14 Monographien und zahlreichen Beiträgen zu wissenschaftlichen Publikationen mit so komplexen Gegenständen wie der Sozialgeschichte der Kindheit, Feindbildern im 20. Jahrhundert, dem Zusammenhang von Naturerkenntnis und politischem Handeln, mit Umweltgeschichte, Märchenforschung und der Geschichte des Tanzes beschäftigt. Er betreute neun Habilitationen und führte zahlreiche Doktoranden zur Promotion. Eine gehaltvolle Festschrift sowie zwei Bände gesammelter Aufsätze spiegeln seinen Rang in der Fachwelt und darüber hinaus. 1987 wurde er für ein Jahr an das Wissenschaftskolleg in Berlin berufen, 1991/92 verbrachte er ein weiteres Jahr am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Einladungen führten ihn unter anderem in die Vereinigten Staaten, nach Japan und China. 1985 trug er dazu bei, den Internationalen Historikertag nach Stuttgart zu holen. Für eine Woche war die „Ökumene der Historiker“ zu Gast an der Universität. Für seine Verdienste um die Geschichtsforschung im In- und Ausland erhielt Nitschke 1986 das Bundesverdienstkreuz. 
Auch die Emeritierung zum 30. September 1994 bedeutete keinen merklichen Einschnitt. Zwar kann sich Nitschke nun endlich auch seinen künstlerischen Neigungen und Interessen widmen. Doch nicht nur Beiträge zu verschiedenen Fachzeitschriften und die Edition einer lateinischen Chronik aus dem späten 13. Jahrhundert, sondern auch ein Buchvorhaben zur nordafrikanischen Felsmalerei lassen erkennen, daß der Jubilar keineswegs im Ruhestand zu verharren gedenkt. Universität und Historisches Institut wünschen ihm auch für die kommenden Aufgaben Gesundheit, Schaffenskraft und Erfolg. 

F. R.

 


last change: 12.12.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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