Das Memorandum stellte heraus, daß es sich bei dem gegenwärtig beklagten Ingenieurmangel nicht nur um eine temporär begrenzte Problematik handele, sondern daß darin die Notwendigkeit einer prinzipiellen Veränderung in der schulischen Ausbildung sichtbar werde. Im Unterschied etwa zu den Fremdsprachen stehen die technischen Disziplinen vor der Schwierigkeit, daß die vorhandenen Schulfächer nicht unmittelbar von entsprechenden Studienfächern fortgesetzt werden können. Das klassische Schulfach „Physik“ allein stelle einen zu schwachen Bezug zur modernen Technik her. Zwischen den bisher vermittelten Grundlagen und dem Verständnis ihrer technischen Anwendungen klaffe eine Lücke, die von den Schülern nicht zu überwinden sei. Diese Lücke könne nur durch die Einrichtung eines zusätzlichen Faches, das den Bezug zwischen reiner Grundlage und Anwendung systematisch herstellt, geschlossen werden.
Die Verfasser des Memorandums betonten dabei, daß es ihnen nicht um eine Instrumentalisierung des Gymnasiums für kurzlebige gesellschaftliche Zielsetzungen unterschiedlicher Art gehe, sondern um eine prinzipielle Überarbeitung gymnasialer Bildungsziele. Nur damit ließe sich vermeiden, daß die Schule in einen vielfachen und letztlich nicht der Sache dienenden Kompromiß-Spagat zwischen Modewissen und einer über Generationen angehäuften abfragbaren Wissenssammlung gerät.
Vorgespräche mit dem Oberschulamt Stuttgart
Das Oberschulamt reagierte schnell. Bereits im Oktober 1998 trafen sich am Institut für Kunststoffprüfung und Kunststoffkunde der Universität Stuttgart Vertreter des Oberschulamtes, der Gymnasien und der Universität. Es herrschte Grundkonsens darüber, daß Inhalte, Struktur und Umfang der derzeitigen Schulfächer nicht mehr zu der Entwicklung im Bereich Naturwissenschaft und Technik passen und ein großer Handlungsbedarf bestehe, damit die Grenzfläche Gymnasium/Universität sich nicht zu einer Trennfläche entwickelt.
Im Sinne der Bildungspolitik solle ein übergreifendes, interdisziplinäres Fach eingerichtet werden, das Freiraum für technische Anwendungen der Naturwissenschaften bietet. Auch die Aufteilung der Fächer gemäß dem klassischen Schema müsse in Zukunft überdacht werden. Denn neue Disziplinen und interdisziplinäre Zusammenarbeit bestimmen heute bereits den wissenschaftlichen Alltag und prägen Studium und Arbeitswelt.
In weiteren Gesprächen wurden der Prorektor Lehre und die Studienkommission eingeschaltet, und von der Fakultät Verfahrenstechnik und Technische Kybernetik wurde die Einbeziehung weiterer Ingenieurfakultäten der Universität Stuttgart vorgeschlagen. Der erweiterte Gesprächskreis „Naturwissenschaft und Technik: Gymnasium trifft Universität“, an dem nun drei Fakultäten der Universität, das Oberschulamt, Gymnasiumsvertreter sowie das Kultus- und das Wissenschaftsministerium beteiligt waren, kam Anfang 1999 zu dem Ergebnis, daß die derzeitige Fächerstruktur in ihrer historisch bestimmten Ausprägung die Entwicklungen im naturwissenschaftlich/technischen Bereich nicht angemessen berücksichtige. Entweder müssen in der Schule neue Fächer eingeführt oder die bestehenden entsprechend modifiziert werden.
Technische Begabungen erkennen und fördern
Auch müssen latente Schülerbegabungen früher und sicherer erkannt werden, um sie für die Berufsorientierungsphase zu öffnen. Und dieser notwendige Wandel im Hintergrundwissen bei der Berufswahl muß auch den Lehrern bewußter werden. Denn auf der derzeitigen Informationsbasis ist eine begabungsgerechte Entscheidung, bei der naturwissenschaftlich/technisch begabte Schüler zu einem vertieften Studium der vorgestellten Phänomene angeregt werden, nicht möglich.
Zwei neue Fächer vorgeschlagen
Auf diesem Hintergrund hat der Gesprächskreis konkrete Vorschläge erarbeitet:
Bereits in der 7. Klasse der allgemeinbildenden Gymnasien soll das Fach „Technikphänomene“ eingerichtet werden. Es soll die Schüler rechtzeitig - also vor einer Entscheidung für das sprachliche oder das naturwissenschaftliche Profil ab Klasse 9 - besser informieren, stärker interessieren und mit Naturwissenschaft/Technik zunächst mehr auf der emotionalen Ebene in Kontakt bringen. Es soll die Neugier wecken, die Weichenstellung für ein naturwissenschaftlich definiertes Profilfach attraktiver und technikorientierter gestalten und dadurch latente Begabungen stärker ansprechen. Wie funktioniert ein Automotor, wie werden an der Supermarktkasse über Strichcode die Preise verarbeitet? In Kleingruppen sollen Schüler selber Hand anlegen können, um beispielsweise Töne auf dem Oszilloskop sichtbar zu machen. Auf dieser Basis ist die grundlagenintensive Arbeit in Physik, Chemie und Biologie eher ein Ansporn zum Verstehen der Zusammenhänge.
Im Anschluß an diese Grundlagenphase wird in dem neu einzurichtenden Fach „Naturwissenschaft und Technik“ die Umsetzung dieser Erkenntnisse in technische Anwendungen behandelt. Im Unterschied zu „Technikphänomene“ geht es hierbei um den Brük- kenschlag von den Grundlagen zur Anwendung, der die Kreativität der Schüler fordert. In diesem Fach soll auch die Trennung der Fächer Physik, Chemie und Biologie überbrückt werden, schließlich ist ein Katalysator oder die Herstellung alkoholfreien Bieres nur aus dem zusammengesetzten Wissen dieser Fächer zu verstehen.
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Das neue Schulfach benötigt auch technische Unterstützung.
Übergabe eines gespendeten Oszilloskops durch Wolfgang
Kull,
Gerd Busse, Herwig Brunner und Hermann Faber
(von links nach rechts). Foto: H. Walter |
Und was wurde erreicht?
Bereits mit Beginn des Schuljahres 1999/2000, also schon ein Jahr nach der ersten Gesprächsrunde, wurde in den 7. Klassen der Gymnasien Weil der Stadt und Renningen probeweise das Fach „Technikphänomene“ eingerichtet. Diese Einrichtung mußte ohne zusätzliche Ressourcen erfolgen. Bei dem Versuch, für dieses Fach Gelder zum Kauf der erforderlichen Oszilloskope aufzutreiben (damit die Schüler in kleinen Gruppen arbeiten und selber das Gerät bedienen können, das ist doch viel spannender!), zeigten sich beachtliche Hürden: Staatliche Stellen verwiesen auf die rund 370 anderen Gymnasien, die ebenfalls Bedarf anmelden könnten, und renommierten Firmen im Stuttgarter Raum war die Wirkung nicht zeitnah genug, da sich eine Spende für die 7. Klasse frühestens in zehn Jahren auf die Bewerbersituation auswirken würde. Schließlich half der Rotary-Club Stuttgart-Wildpark weiter (siehe Photo).
Das Fach kommt bei Lehrern, Schü- lerinnen und Schülern und Eltern ausgesprochen gut an. Und daß auch die Mädchen in dieser Phase ausgesprochen begeistert mitmachen, ist ein Beweis für dort vorhandene Ressourcen.
„Naturwissenschaft und Technik“ in der Schule
Das Engagement des Gesprächskreises hat aber noch einen wichtigen Beitrag zu einer weiteren Innovation an den baden-württembergischen Schulen geleistet: Mit dem laufenden Schuljahr 2001/2002 beginnt an fünf Gymnasien des Stuttgarter Oberschulamtsbezirks die Erprobung des Faches „Naturwissenschaft und Technik“. Es steht dort als gleichwertiges Kernfach neben der dritten Fremdsprache und könnte somit das gewünschte Gegengewicht zur sprachlichen Orientierung an den allgemeinbildenden Gymnasien bilden. Im Rahmen eines vom Ministerium akzeptierten Modellversuchs wird „Naturwissenschaft und Technik“ in den Klassen 9 bis 11 des neunjährigen beziehungsweise in den Klassen 8 bis 10 des achtjährigen Gymnasiums mit insgesamt 12 Wochenstunden unterrichtet werden.
Ingenieure an die Schulen?
Ein weiterer radikaler Schritt zur Stärkung der Präsenz von Naturwissenschaft und Technik wäre die Einstellung von Ingenieuren in den Schuldienst, damit sie das neu zu schaffende Fach begeistert vertreten könnten. Doch realistisch betrachtet, lassen Marktsituation und Gehaltsstruktur dieses Modell auf lange Sicht nicht zu. Somit besteht relativ wenig Hoffnung, daß auf die Schieflage der Bildungssituation schnell und umfassend reagiert werden kann. Um so mehr konzentrieren sich die hohen Erwartungen, sicherlich nicht nur der Gesprächskreisteilnehmer, auf das neue Fach „Naturwissenschaft und Technik“.
Kontakt
Prof. Dr. Gerd Busse
Tel. 0711/685-2626
e-mail: busse@ikp.uni-stuttgart.de