Home           Inhalt           Suchen

Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Wirtschaft und Technik als schulische Lehr- und Lerninhalte:
Das Humboldtsche Bildungsideal wandelt sich nur langsam
 

Es gibt zahlreiche Beispiele, an denen die Relevanz von Wirtschaft und Technik sowie der ökonomischen und technischen Bildung aufgezeigt werden kann. Auch die schulischen Lehr- und Lerninhalte werden davon in Zukunft betroffen sein. 

kleinbal.gif (902 Byte)
 

Zu erinnern ist in der gegenwärtigen Diskussion an die Forderung nach Einrichtung eines eigenen Lernbereichs Wirtschaft an allgemeinbildenden Schulen, an die Verstärkung der Naturwissenschaften und die Etablierung eines Technikunterrichts an Gymnasien in weiteren Bundesländern, an die Einführung neuer bzw. den Ausbau von Ausbildungs- und Studiengängen, die wirtschaftliche und technische Elemente verzahnen, als Folge der Informations- und Kommunikationstechnologie, veränderter Führungskonzepte und neuartiger Aufgaben in zahlreichen Praxisbereichen, an die Zusammenführung praktischer, von Wirtschaft und Technik geprägter betrieblicher Situationen zu Lernfeldern als strukturierendes Mittel des fachlichen Unterrichts an Berufsschulen, an die gegenseitige Belegpflicht von ingenieur- oder naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen in Magister- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, an die Aktivitäten der Universitäten im Hin- blick auf Studierendennachwuchs für technische Fächer.
Mit länderspezifischen Unterschieden sind heute die Berufsorientierung sowie wirtschaftliche Themen und Inhalte direkt oder indirekt in den Lehrplänen der Hauptschule, Realschule und Gymnasium vertreten. Die Situation der Technik stellt sich wie folgt dar.

Hauptschule
Was die Situation in Baden-Württemberg anlangt, hat in der Hauptschule der Unterrichtsbereich Arbeit-Wirtschaft-Technik (AWT) eine zentrale Bedeutung. In den Fächern Wirtschaftslehre/Informatik (ab Klasse 7), Technik (ab Klasse 5), Hauswirtschaft/Textiles Werken (ab Klasse 6) sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Kenntnisse praktisch anzuwenden. Inhaltlicher Schwerpunkt in AWT ist die Unterrichtseinheit „Orientierung in Berufsfeldern“ (OiB).

Realschule
In der Realschule sind im Pflichtbereich die Fächer Technik sowie Erdkunde und Gemeinschaftskunde enthalten, die auch Wirtschaftsthemen einbeziehen. In Klasse 7 ist ein Wahlpflichtbereich eingerichtet mit den Fächern Mensch und Umwelt und Natur und Technik, die ebenfalls ökonomische Bezüge aufweisen. Auch im themenorientierten Projekt „Wirtschaften, Verwalten und Recht“, das ab 1996 entwickelt wurde, werden Einsichten in die Strukturen der arbeitsteiligen Wirtschaft, in Organisations- und Verwaltungsabläufe sowie in die dazugehörigen rechtlichen Rahmenbedingungen erworben. Das Pflichtthema „Informationstechnische Grundkenntnisse“ vermittelt in den Klassen 7 und 8 Basiskenntnisse im Umgang mit elektronischen Medien. Die Berufsorientierung in der Realschule (BORS) hat ihren Schwerpunkt in der Klasse 9.

Gymnasium
Allgemeinbildende Gymnasien in Baden-Württemberg weisen weder Wirtschaft noch Technik in der Stundentafel aus. Wirtschaftliche Themen sind in Gemeinschafts- und Erdkunde enthalten. Anknüpfungen für technische Phänomene ergeben sich in den naturwissenschaftlichen Fächern. Die Berufs- und Studienorientierung an Gymnasien (BOGY) ist in Klasse 10 und 11 eingeführt und soll entsprechend den Richtungsentscheidungen der KMK von 1995 und den Empfehlungen einer Expertenkommission zur Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe verstärkt werden.

Auch in Technik tut sich was
Angesichts des externen Drucks, Wirtschaft und Technik als eigenständige Fächer im Gymnasium einzuführen, erwägt die baden-württembergische Landesregierung eine Verstärkung der Wirtschaftskunde und die Schaffung eines neuen Schulfaches Erdkunde-Politik-Wirtschaft. Auch in Technik tut sich etwas: Eine Gruppe von Vertretern der Ministerien sowie der Oberschulämter, Leiter von Gymnasien sowie Professoren technischer Fachbereiche haben das Gespräch über Technikunterricht aufgenommen. Inzwischen wird auch das Fach Technikphänomene analog zu Naturphänomene im Gymnasium erprobt. Ein Modellversuch mit einem zusätzlichen Fach „Naturwissenschaft und Technik“ ist angelaufen (siehe auch den Beitrag "Modellversuch ‚Naturwissenschaft und Technik‘").
Ob diese Pläne beeinträchtigt werden durch die beabsichtigte Kürzung der Schulzeit an Gymnasien, die eine „Entrümpelung des Lehrplans“ nach sich zieht, muß sich noch erweisen. Auf jeden Fall scheint die Abneigung des vom Humboldtschen Bildungsideal geprägten Gymnasiums gegenüber den „Niederungen des Alltags“, gegenüber Wirtschaft und Technik zu schwinden. Ein zusätzliches Indiz ist die Aufnahme von Berufs- und Wirtschaftspädagogik in die Prüfungsordnung zum Ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien (März 2001) als Wahlmöglichkeit in den Erziehungswissenschaften.
Jüngst hat das Institut für Berufs-, Wirtschafts- und Technikpädagogik der Universität Stuttgart eine Analyse wirtschaftsbezogener Lehr- und Lerninhalte an ausgewählten allgemeinen und berufsbildenden Schulen in Baden-Württemberg durchgeführt. Derartige Untersuchungen sind Voraussetzung, eingeführte Lehrpläne zu prüfen und - wenn nötig - organisatorisch-didaktische Veränderungen zu empfehlen. Die Untersuchungsergebnisse, die hier nicht diskutiert werden können, sind in unten stehender Tabelle zusammengefaßt.

Tab. 1: Verteilung wirtschaftsrelevanter Lehr- und Lerninhalte auf unterschiedliche Lebensbereiche

Schulart
(Fächer)
Einbezogene Studienzahl Wirtschaft - Privatsphäre Wirtschaft - Arbeit, Beruf und Betrieb Wirtschaft - Gesellschaft und Politik
Hauptschule
(WL u. I)
85 31% 53% 16%
Realschule
(GK, EK, N+T, M+U)
100 28% 30% 42%
Gymnasium (Grundkurs)
(GK, EK)
68 7% 22% 71%
Berufsschule (gewerbl.)
(WK)
75 11% 52% 37%
Berufsschule (kaufm.)
(AWL)
125 16% 46% 38%
Berufl. Gymnasium (TG)
(Wgeo, WL)
119 8% 45% 47%
Berufl. Gymnasium (WG)
(Wgeo)
65 12% 19% 69%
Abkürzungen:
AWL Allgemeine Wirtschaftslehre
EK     Erdkunde
GK    Gemeinschaftskunde
M+U Mensch und Umwelt
N+T  Natur und Technik
WL      Wirtschaftslehre
WL u. I Wirtschaftslehre und Informatik
Wgeo   Wirtschaftsgeographie
WK      Wirtschaftskunde

 

Wirtschaftsbildung - wie auch Technikbildung - sind über die berufliche Sphäre hinaus (Berufsorientierung, berufliche Aus- und Weiterbildung) für die Bewältigung unterschiedlicher von Wirtschaft und Technik geprägter Lebensbereiche unersetzlich. Deshalb sollten sie auch gebührend Beachtung in Gesellschaft und Politik finden. Für die Erziehungswissenschaft ergibt sich die Verpflichtung, optimale Konzepte und Lehr-/Lernstrategien zu entwickeln, um wirtschaftliche und technische Lehr-/Lerninhalte eigenständig oder im Verbund anderer Fächer effektiv erwerben zu lassen.

Kontakt
Prof. Dr. Karl-Heinz Sommer, Institut für Berufs-, Wirtschafts- und Technikpädagogik, Keplerstr. 17
Tel. 0711/121-3182
e-mail: sekretariat@bwt.uni-stuttgart.de

 

 

last change: 12.12.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt           Suchen