Stuttgarter unikurier
Nr. 89 April 2002 |
Fremdschein für Geisteswissenschaftler wird leichter:
Wie Philosophen Mathe kapieren |
Seit dem Wintersemester 2001/ 2002 hat der naturwissenschaftliche Fremdschein für Studierende der Geisteswissenschaften seinen Schrecken verloren: Mit der Vorlesung „Begegnungen mit Mathematik - Mathematik für Geisteswissenschaftler“ schuf Professor Burkhard Kümmerer ein Angebot, das Formeln und Beweise für Ni.htmlathematiker verständlich macht.
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Um Geisteswissenschaftlern den Blick über den Tellerrand zu schärfen, schreibt die Magisterprüfungsordnung der Fakultät Philosophie seit drei Jahren auch einen qualifizierten Schein aus den Natur- oder Ingenieurwissenschaften vor. Bisher war dieser Fremdschein eine harte Nuss: wer ihn erwerben wollte, musste sich über Themen wie „Konstruktion der leichten Flächentragwerke“ oder „Höhere Mathematik III“ prüfen lassen. Für Sprach- oder Geschichtsstudenten etwa war das oft fast nicht machbar. Daher suchte die Fakultät nach einem Angebot, das die Naturwissenschaften für Laien ohne Vorkenntnisse aufbereitet. In Burkhard Kümmerer, der seit Jahren frische Ideen in der Vermittlung von Mathematik fordert und schon mit langen Mathematik-Nächten im Rundfunk Aufsehen erregte, fand sie einen begeisterten Ansprechpartner.
Kaninchen, Fünfeck, Sonnenblumen
Damit „Mathe“ für Fachfremde verständlich wird, hat Kümmerer seine Vorlesung völlig neu konzipiert. Der Lehrstoff setzt dort an, wo Menschen der Mathematik im Alltag begegnen und stellt Fragen, die auf den ersten Blick wenig mit dem Fach zu tun haben. Eine Sitzung zum Prinzip des Goldenen Schnittes zum Beispiel steht unter dem Motto „Kaninchen, Fünfeck und Sonnenblumen“. Beweise werden nicht durch Formeln erklärt, sondern mit Anekdoten und Zeichnungen. Und um zu verdeutlichen, dass die Wurzel aus zwei eine irrationale Zahl ist, falzt Burkhard Kümmerer ein quadratisches Origamipapier mit dem Daumennagel zu immer kleiner werdenden Dreiecken und zeigt es schließlich schmunzelnd im Hörsaal herum: „Sehen Sie, Sie können endlos weiter falten“. Der ungewöhnliche Ansatz sei nötig, weil viele Menschen ein völlig falsches Bild von dem Fach mitbringen. Schon in der Schule laufe da manches schief, und dieses Unwissen, bedauert Kümmerer, „macht Angst“. Die Folge: die Studenten blockieren sich bei der Lösung der Aufgaben selbst und hören auf, nachzudenken. Dabei zeige die Erfahrung der Vorlesung, die von Tutorien und Übungen begleitet wird, dass gerade Fachfremde bei den Übungsaufgaben zu höchst kreativen Lösungswegen finden. Nur das Denken der Geisteswissenschaftler sei gegenüber dem „echter“ Mathematiker ein anderes: „Sie gehen eher intuitiv an eine Aufgabe heran und sind es nicht gewohnt, die Lösung in eine Formel zu fassen“.
Engagierte Fakultätsrätin
Der Arbeitsaufwand für die Vorlesung sei immens gewesen, berichtet Kümmerer, „für jede Sitzung rechnete ich fünf bis sechs Tage Vorbereitungszeit, mehr als bei irgendeiner meiner sonstigen Vorlesungen“. Dazu kam ein beachtlicher organisatorischer Kraftakt. Dass das Projekt dennoch zustande kam, ist auch einer Studentin zu verdanken: Leko Schmidt, die selbst Germanistik, Anglistik und Geschichte studiert und seit drei Jahren im Fakultätsrat aktiv ist, wusste aus vielen Gesprächen von den Nöten der betroffenen Studenten. Sie trug die Idee zu der Vorlesung an Kümmerer heran und managte die praktische Durchführung. Dabei galt es, finanzielle Mittel aufzutreiben, einen Hörsaal zu organisieren und die Integration in die Prüfungsordnung zu bewerkstelligen. Es sei unglaublich, lacht Schmidt, „was da alles dranhängt“, und Kümmerer lobt die Fakultätsrätin: „Ohne das Engagement von Frau Schmidt wäre die Vorlesung nicht zustande gekommen“.
Dies wurde auch von der Uni Stuttgart honoriert. Sie verlieh Leko Schmidt im Oktober 2001 anlässlich des
festlichen Erstsemesterabends in der Liederhalle einen Anteil von 1.500 Mark (767 Euro) an dem mit insgesamt 6.500 Mark (3.323 Euro) dotierten Preis für besonderes studentisches Engagement.
Physik setzt Vorlesungsreihe fort
Aber auch die Studierenden belohnten die Anstrengungen. 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten die Vorlesung, und obwohl einige den Lehrstoff als „immer noch reichlich komplex“ empfanden und selbst Burkhard Kümmerer einräumt, dass es nicht ganz ohne Üben gehe, blieben die meisten Studenten bis zum Semesterende bei der Stange.
Keine Angst vor Experimenten
Daher ist man froh, den Geisteswissenschaftlern ein attraktives Anschlussangebot machen zu können, wenn Professor Kümmerer, der schon im vergangenen Jahr einen Ruf nach Darmstadt erhielt, Stuttgart endgültig den Rücken kehrt. Im Wintersemester 2002/ 2003 wird Wolfgang Weidlich, Professor am Institut für Theoretische Physik, die Reihe mit „Physik für Geistes- und Sozialwissenschaftler“ fortsetzen. Auch diese Vorlesung hat einen völlig neu konzipierten Ansatz und setzt lediglich Schulkenntnisse in Mathematik, die dem gymnasialen Grundkurs in diesem Fach entsprechen, voraus. Sie will nicht nur in die Grundlagen der Physik einführen, sondern auch die Bezüge des Faches zur Philosophie aufzeigen. Angst vor komplizierten Experimenten brauchen die Studierenden dabei nicht zu haben, lediglich praktische Demonstrationen sollen hier und da das Verständnis erleichtern.
Andrea Mayer-Grenu
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