Stuttgarter unikurier
Nr. 91 April 2003 |
Die Bundestagswahl 2002 im
Rückblick:
Wer
wählt wen warum? |
Eine der Hauptfragen der Wahlforschung lautet: Wer wählt wen warum? Die Bundestagswahl am 22. September 2002 brachte eines der knappsten Wahlergebnisse in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach der
Stimmenauszählung lagen SPD und Union nahezu gleich auf, die
Grßeen wurden erneut drittstärkste Kraft vor der FDP und die PDS scheiterte an der
Fünfprozenthürde. Vor allem der Gewinn von fünf Überhangmandaten durch die SPD
ermöglichte eine Neuauflage der rot-grünen Koalition.
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Die individuelle Wahlentscheidung resultiert nach dem so genannten sozialpsychologischen Ansatz des Michigan-Modells vor allem in den letzten Jahren aus einem Zusammenspiel von lang- und kurzfristig wirksamen Faktoren. Neben den beiden Kurzfristfaktoren, der individuellen Wahrnehmung und
Einschätzung von Kandidaten- und Sachthemen, beeinflusst die affektive Bindung des Individuums an eine politische Partei die Stimmabgabe bei
Wahlen. Jüngste Untersuchungsergebnisse aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG) geförderten Forschungsprojekt der Universitäten Stuttgart, Bamberg und Mainz geben Aufschluss
darüber, welche Rolle die Bestimmungsfaktoren Parteiidentifikation, Kandidaten- und Sachthemenorientierung bei der Bundestagswahl im Herbst 2002 spielten.
Gerade bei der Parteiidentifikation fallen die zwischen den neuen und alten
Bundesländern bestehenden Unterschiede besonders ins Gewicht. So ist der Anteil der Personen, die sich mit einer Partei identifizieren, im Westen deutlich
höher als im Osten. In den neuen Bundesländern weist der
Großteil der Befragten keine Bindung an eine Partei auf. In Anbetracht der erst relativ kurzen Erfahrung der Ostdeutschen mit dem westdeutschen Parteiensystem ist dies jedoch nicht
überraschend. Fühlen sich die Wähler einer Partei verbunden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr
groß, dass sie dieser Partei bei der Wahl ihre Stimme geben. Dabei liegt die SPD vor der CDU, da eine sozialdemokratische Parteibindung in Ost- und Westdeutschland weiter verbreitet ist als eine Identifikation mit der CDU. Allerdings war der Effekt der Parteiidentifikation im Jahr 2002 bei den
Unionswählern stärker als bei denen der SPD.
Sachthema Arbeitsmarkt
Die Arbeitsmarktpolitik stellte im gesamten Wahljahr das wichtigste Sachthema dar und wurde im September durch das Hinzukommen der Bildungs- und
Außenpolitik ergänzt. Generell hatten die Befragten große Zweifel an den
Fähigkeiten sowohl von der Union als auch von der SPD, die wichtigsten politischen Aufgaben
lösen zu können. In den alten Bundesländern hatte die CDU/CSU einen leichten Vorsprung in der Bewertung der
Problemlösungskompetenz, in den neuen Ländern die SPD. Allerdings erreichte die CDU auf fast allen Politikfeldern eine etwas bessere Bewertung. Insgesamt hatte die Kompetenzbewertung einen starken Einfluss auf die Wahlabsicht. Mehr als drei Viertel der Befragten, die einer Partei eine
Lösungskompetenz zuwiesen, haben für die entsprechende Partei bei der Wahl votiert. Die SPD konnte einen leichten Vorteil bei Befragten ohne Kompetenzzuweisung
für sich verbuchen.
Kanzlerbonus
Bei den Kanzlerkandidaten konnte während des gesamten Jahres 2002 ein starker „Kanzlerbonus"
festgestellt werden. Besonders im Osten konnte Schröder die
Bürger für sich gewinnen. Hinzu kommt, dass der Abstand zwischen
Schröder und Stoiber wuchs, je näher der Wahltermin rückte. Betrachtet man die Profile der
Kandidaten, ergibt sich ein Kompetenzvorsprung von Stoiber in wirtschaftspolitischen
Fragen, während Schröder bei den „weichen"
Faktoren wie Sympathie punkten konnte. Bei den meisten Sachfragen
fällt die Bilanz ausgeglichen aus. Mit zunehmender Nähe des Wahltermins verbesserte sich allerdings die Bewertung
Schröders. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen
Kandidatenpräferenz und Wahlverhalten zeigte sich, dass eine positive Bewertung der Kandidaten die Wahlabsicht der entsprechenden Partei
fördert. Schröder-Anhänger wählten jedoch häufiger andere Parteien als Stoiber-Sympathisanten.
Fazit
Ingesamt signalisiert das Wahlergebnis eine geringes Engagement der
Wähler. Denn trotz des zu erwartenden Kopf-an-Kopf-Rennens ging die Wahlbeteiligung im Vergleich mit 1998
zurück. Zusammengefasst lässt sich der Erfolg der Regierungskoalition auf die Ausstrahlung des Kanzlers, die deutliche
Kompetenzschwächen in den Hintergrund rücken ließen, und den
Überraschungserfolg der Grünen, die im Wahlkampf verstärkt auf die Person Fischer und die
Außenpolitik gesetzt hatten, zurückführen. Ein maßgeblicher Grund war auch der Einbruch der PDS in den neuen
Bundesländern. Ursachen für das Scheitern der Opposition waren das schwache Abschneiden der Union
außerhalb Bayerns und der Misserfolg der FDP-Strategie. Zwar konnte die Union deutlich an Stimmen hinzugewinnen, jedoch konnten diese Gewinne die geringe
Wählerresonanz im Osten und im Norden der Bundesrepublik sowie die Stagnation in den
Großstädten nicht kompensieren. Außerdem erwies sich das Projekt der Liberalen als
völliger Fehlschlag, und auch der Verzicht auf eine Koalitionsaussage im Vorfeld der Bundestagswahl stellte sich als strategischer Fehler heraus. Der Sieg von SPD und
Grünen war also weniger ein Erfolg aus eigener Kraft als vielmehr eine Folge der
Schwäche der Opposition.
Kontakt
Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart,
Abteilung für Politische Systeme und Politische
Soziologie,
Prof. Oscar W. Gabriel,
Breitscheidstr. 2, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-3430, Fax 0711/121-2333,
Email: kerstin.voelkl@po.pol.uni-stuttgart.de
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