Stuttgarter unikurier
Nr. 91 April 2003 |
Richard
Schröder bei Heuss-Gedächtnis-Vorlesung:
„Deutschland braucht eine gemeinsame
Erinnerungskultur" |
„Deutschlands
Geschichte muss uns nicht um den Schlaf bringen" - das
Thema der diesjährigen Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung
am 12. Dezember 2002 war Titel und Fazit zugleich.
Referent war der Politiker und Wissenschaftler Dr. Richard
Schröder. Sein ebenso profunder wie humorvoller Vortrag
war ein Plädoyer für eine demokratische deutsche
Erinnerungskultur. |
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Zum sechsten Mal würdigten die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus und die
Universität Stuttgart mit einer gemeinsamen Vorlesung das
Vermächtnis des ersten deutschen Bundespräsidenten. Dass diese
Vorträge in der Uni stattfinden, ist kein Zufall, wie Rektor Prof. Dieter Fritsch betonte:
Schließlich pflegte Heuss stets ein besonderes Verhältnis zur
Universität seiner Heimatstadt, wo er am Historischen Institut auch wissenschaftlich aktiv war.
Mit Richard Schröder konnte ein Festredner gewonnen werden, der an das
Bemühen von Theodor Heuss um eine deutsche Erinne-rungskultur
anknüpfte, sagte die Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Gabriele
Müller-Trimbusch. Während es dem Altpräsidenten jedoch um die symbolische Verortung der jungen Demokratie nach dem zweiten Weltkrieg ging, sei es heute zentrale Aufgabe der Politik, zwei deutsche Staaten mit
völlig verschiedenen historischen Bezügen zusammenwachsen zu lassen.
An der Ausgestaltung dieses Prozesses wirkte Schröder
persönlich mit: 1989/90 gehörte er der Verfassungskommission des „Runden
Tisches" an. Er war Fraktionsvorsitzender der SPD in der Volkskammer und ist seit 1991 Mitglied im nationalen Ethikrat. Aber auch als Wissenschaftler hat
Schröder, der seit 1993 einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie an der Berliner
Humboldt-Universität bekleidet, das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten immer wieder kritisch kommentiert.
Einheit weit vorangeschritten
Mit einer fast flapsig gehaltenen Beschreibung der deutschen Befindlichkeit ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung
führte Schröder in die Thematik ein: „Die deutsche Einheit ist weiter vorangeschritten als die der Italiener oder Belgier.
Flugblätter zur Wiedererrichtung der DDR fassen nicht einmal mehr PDS-Abgeordnete
an." Die Flutkatastrophe an der Elbe habe gezeigt, dass der Wille zum gemeinsamen Leben unter den Deutschen stark
ausgeprägt sei.
Dem positiven Vorwort folgten allerdings nachdenkliche Töne. Wenn es um die Zukunftsgestaltung gehe, stellte
Schröder fest, dann funktioniere das einig Vaterland nach der Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass".
Den Grund für den fehlenden Mut, Probleme gemeinsam anzupacken, sieht
Schröder in einer massiven Erinnerungsverdrossenheit: „Deutschland hat Probleme, sich eine gemeinsame Geschichte zu
erzählen." Ihre Ursache habe diese Sprachlosigkeit darin, dass der Gedanke an ein geeintes Deutschland in beiden Staaten extrem unterschiedlich bewertet wurde. So war im Westen die Wiedervereinigung zwar definiertes Staatsziel. Die kritische
Öffentlichkeit assoziierte den Gedanken jedoch eher mit Heinrich Heines Zeilen „Denk ich an Deutschland in der
Nacht...."- schon damals ignorierend, dass nicht das Vaterland, sondern die Sorge um die kranke Mutter den Dichter um den Schlaf gebracht hatte.
In der ehemaligen DDR wiederum war zwar die erste Verfassung noch auf die Wiedervereinigung ausgerichtet. Seit 1968 jedoch wurde die Doktrin zweier Staaten in Gesetzen verankert, das Wort deutsch mit nachgerade kurioser
Gründlichkeit verdrängt. Dadurch jedoch habe der Blick nach Deutschland
für DDR-Bürger eine fast subversive Kraft bekommen.
Suche nach postnationaler Identität
Diese machte sich bemerkbar, als das Regime bröckelte: „Die
DDR-Bürger hatten es satt, Versuchskaninchen in einem sozialistischen Experiment zu spielen und wollten einfach wieder nur deutsch
werden." Bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig wurde daher von Anfang an der Ruf nach Einheit laut.
Heute gehe es darum, die unterschiedlichen Erfahrungen in eine gemeinsame
Identität einzubringen. „Dieses Empfinden muss postnational sein, Europa als Ersatznation taugt
nicht." Die Entwicklung eines positiven Nationalgefühls erfordere jedoch eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Hierzu gehört die endgültige Aufarbeitung der Verbrechen der Nazizeit: „Sie
gehören zum nationalen Erbe, zu dem wir uns bekennen und für das wir haften
müssen. Sie zum Bestandteil der nationalen Identität zu machen,
würde aber einem Nationalismus mit negativen Vorzeichen gleichkommen und
wäre falsch."
Legendenbildung beenden
Aber auch bei der Betrachtung der jüngeren Vergangenheit muss der Legendenbildung ein Ende gesetzt werden. Eine solche
Mär sei die von der „harmlosen DDR" die, wenngleich aus unterschiedlichen
Gründen, in Ost und West blühe: „Wer sich im Westen die DDR wie eine BRD mit weniger Einkommen vorstellt, verkennt, dass es um Recht und Freiheit im Osten schlecht bestellt war. Und wer sich im Osten nur in der Opferrolle sieht, verleugnet die
Mittäterschaft vieler Landsleute." Auch der „Kolonialismuslegende" wonach der Osten nach der Wiedervereinigung vom Westen
förmlich überrollt wurde, erteilte Schröder eine klare Absage:
Altfunktionäre in Schulen oder Rat-häisern seien schließlich von den eigenen Kollegen abgesetzt worden.
Unberechtigt sei auch der Vorwurf, die Treuhand habe die Ostwirtschaft ruiniert. Ebenso falsch sei das Bild vom rechtsradikalen Osten. Die Jugendgewalt in den neuen
Bundesländern entstamme vielmehr dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, und dem Willen zur Provokation: „Harmlos ist das nicht, mit Neonazismus haben die Glatzen aber nur am Rande zu
tun."
Wenn Deutschland zu einer „erzählbaren"
gemeinsamen Geschichte finden will, müsse über diese Fragen ohne Miesmacherei gesprochen werden.
Schröder zeigte sich vom Gelingen dieses Annäherungsprozesses
überzeugt. In nicht allzu ferner Zukunft werde man in der Diskussion um die Wiedervereinigung von den goldenen neunziger Jahren sprechen: „Schöne
Bildbände zum Vorher-Nachher-Vergleich gibt es ja schon
jetzt." /Andrea Mayer-Grenu
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