Die orientalisch islamische Altstadt
Das antike Reich Sogdien mit den Siedlungen Taschkent,
Samarkant und Buchara galt schon bei griechischen und
römischen Autoren als „das Land der Tausend Städte“.
Buddhismus, Christentum und Manichäismus gelangten von hier
nach Osten, und sogdische Kaufleute kontrollierten für viele
Jahrhunderte die „Seidenstraße“ und damit den Handel
zwischen China, dem Vorderen Orient und Europa. Hier
entwickelte sich eine vielfältige ethnisch und religiös
gemischte sowie ökonomisch und intellektuell geschichtete
Gesellschaft, die früh eine städtische Kultur hervorbrachte.
Taschkent zählte neben Buchara zu Beginn des 19.
Jahrhundert mit 40.000 Einwohnern zu den größten Städten der
Region. Bei der russischen Eroberung, 1866, waren es bereits
100.000 Einwohner. Bis dahin war die Stadt von einer Mauer
umgeben, die 1400 Hektar Fläche Schutz bot. Innerhalb der
Stadtmauer befand sich die verhältnismäßig dicht bebaute
Kernstadt sowie landwirtschaftliche Flächen.
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Als grüne Oase in der Steppe lockt die größte Stadt
Zentralasiens. Hier der Eingang zu einem Restaurant
im heutigen Taschkent.
(Alle Abbildungen: Städtebau-Institut) |
Die russischen Einflüsse
Taschkent wurde nach 1866 mit dem Übergang in das
russische Reich zu einer russischen Kolonialstadt umgebaut.
Im Osten und Südosten wurde die einstige Burganlage (Urda)
und die Stadtmauer abgerissen und mit zunächst militärisch
veranlassten Neubauten der Keim für ein koloniales
Doppelstadtgefüge gelegt. Nicht die Zerstörung der alten
Stadt und ihrer kulturellen Eigenart war das Ziel, sondern
die Übernahme der hoheitlichen und administrativen
Verantwortung durch die russischen Kolonialherren.
Die neue russische Stadtanlage in Osten von
Taschkent, mit ihren bis zu 25 Meter breiten
Stadtboulevards, mit Gräben zur Wasserversorgung und
Baumstreifen, entsprach völlig europäischen
Städtebaukonzeptionen, die hier erstmals in Zentralasien
verwirklicht wurden. Nach den Plänen des Militäringenieurs
Makaroff folgte nach 1870 eine zweite Erweiterungsphase, die
sternförmig auf die Mitte der Anlage bezogene Radialen
festlegte. Diese einprägsame Halbkreisform, die bis heute
den Stadtplan von Taschkent dominiert, zeigt den Willen zur
Zentralisierung und vermittelt in seiner immensen Ausdehnung
einen Eindruck vom Selbstbewusstsein der russischen
Kolonialmacht. Ein Nebeneinander von alter islamischer Stadt
und neuer Stadt findet man auch in europäischen
Kolonialstädten, wie der Ville Nouvelle der Franzosen in
Nordafrika oder in Marrakech, Fez und Algier.
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Taschkent 1890: Nach der russischen Eroberung wurde
im Osten eine neue radial angelegte Stadtanlage mit
bis zu 25 Meter breiten Boulevards angebaut, die den
europäischen Städtebau-konzeptionen entsprach. Links
ist das gewachsene Straßenmuster der Altstadt zu
sehen. |
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzeugten
Industrialisierung und Landflucht einen immensen
Bevölkerungsdruck. Die Einwohnerzahl Taschkents explodierte
von 104.000 im Jahre 1877, davon 4.000 Russen, auf 234.000
im Jahre 1911. Die russischen Stadtanlagen wurden umgebaut,
verdichtet und modernisiert.
Die wuchernde Urbanisierung folgte keinem Grundriss
mehr, sondern „ungeplante“ Siedlungen entstanden auch
außerhalb der Baugebiete. Um das ungehemmte Wachstum zu
kontrollieren, wurde als Gegenmodell die eigentlich aus
England stammende Idee der Gartenstadt adaptiert. Erste
aufgelockerte Siedlungsformen mit genossenschaftlich
organisierten Besitzverhältnissen und Arbeitsformen wurden
in Russland seit 1912 proklamiert.
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Nach der Revolution prägten breite Boulevards mit
Wohnhäusern im typischen neoklassizistischen Stil
der Stalinära die neue Stadt. |
Nach Plan: die sowjetischen Stadtmodelle
Mit der Machtübernahme der Sowjets in Russland wurden nach
1917 allseits Pläne für eine neue sozialistische
Gesellschaft, einen „neuen Menschen“ mit neuen Lebens- und
Wohnformen aufgestellt. Nach 1930 wurden auch für Taschkent
Stadtplanungen entwickelt, um die sowjetische Dominanz zu
stärken. Gleich der erste - von einem Moskauer Architekten
aufgestellte - Plan forderte die vollständige Aufhebung der
historischen Stadt zu Gunsten einer radialkonzentrischen
Stadtstruktur. Nur allmählich stellte man sich dem konkreten
Problem einer Verschmelzung der alten und der neuen Stadt.
Doch erst der Bau der Strasse Navoi nach 1943 verknüpfte die
halbkreisförmige russische Stadt mit dem Bereich des Bazars
im Zentrum der Altstadt und hob damit den bipolaren
Charakter von Taschkent erstmalig auf.
Weitere
breite Boulevards mit Wohnhäusern im typischen
neoklassizistischen Stil der Stalinära folgten.
Rechtwinklige Baublöcke und auf zentrale Plätze bezogene
Straßen, die Entwicklung eines umfassenden Grünsystems mit
drei großen Parkanlagen entlang der Flüsse sowie die
Schaffung öffentlicher Plätze bestimmten die Umgestaltung
der Stadt in den nächsten Jahrzehnten. Es wurde versucht,
die gewachsene historische Stadt durch eine rational
geplante, europäische Stadtstruktur zu ersetzen.
Der Bevölkerungsdruck wächst
Die Folgen des Zweiten Weltkriegs lösten einen weiteren
Schub in der Stadtentwicklung Taschkents aus. Industrielle
Anlagen aus dem Westen der Sowjetunion und wissenschaftliche
Einrichtungen wurden nach Usbekistan verlagert. 1959
erreichte die Bevölkerung mit 912.000 fast die
Millionengrenze und die „funktionale Stadt“ wurde zum
einheitlichen sowjetischen Städtebaumodell erhoben. Entlang
großer Magistralen, mit denen die Industriekomplexe
verbunden sind, liegen die Wohnquartiere mit einer Vielzahl
öffentlicher Einrichtungen, die neue soziale, administrative
und kulturelle Aufgaben erfüllen sollen.
In
architektonischer Gestaltung, Grundrissorganisation und
städtebaulicher Struktur wurde jetzt kein Bezug auf lokale
oder nationale Traditionen mehr genommen. Die ersten
Siedlungen in Taschkent kopierten die neuen Wohnquartiere in
Moskau. Steigende Ressourcenknappheit und Industrialisierung
des Bauens führten zusammen mit der Intensivierung der
Bodennutzung zur Konzentration der Bautätigkeit in den
Zentren und vor allem zum Bau höherer Gebäude. Diese Tendenz
bestimmte besonders den russisch dominierten östlichen Teil
der Stadt; die alte Stadt konnte sich diesem „Fortschritt“
weitgehend noch entziehen.
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Nach dem Erdbeben von 1966 konnten
Reißbrettplanungen großflächig umgesetzt werden. Das
Luftbild zeigt die heute bereits baufällige
Plattenbausiedlung Sebzor, die wie ein Computerchip
in die Altstadt gestanzt wurde. |
Erdbeben schafft neue Voraussetzungen
Erst das Erdbeben vom 26. April 1966 führte in der Folge zum
vollständigen Umbau Taschkents zu einer modernen Großstadt
sowjetischer Prägung. Die Erdbebenschäden zogen sich über
eine Fläche von zehn Quadratkilometern hin; 300.000 Menschen
wurden obdachlos. Doch die Not zum Wiederaufbau bot den
Planern auch die einmalige Gelegenheit, das Gesicht der
Altstadt vollständig zu verändern. Realisiert werden konnte
nun der alte Plan aus den 30er Jahren für eine einheitliche,
zusammen-hängende Struktur der beiden Stadtteile.
Der
alte Basar und der zentrale Platz der Neustadt wurden durch
drei Achsen miteinander verbunden. Ziel des Wiederaufbaus
waren mehrere hierarchisch wirkende Zentren mit schnellen
und kreuzungsfreien Straßen. Die ganze Stadt wurde über ein
System von zehn Plätzen, dem goldenen Ring, miteinander in
Beziehung gesetzt. 1977 wurde die Metro eröffnet und seit
dem verfügt Taschkent als erste Stadt Zentralasiens über
eine
U-Bahn. Taschkent sollte zu einer zentralasiatischen
Metropole ausgebaut werden, in der die Ideen einer modernen
sozialistische Gesellschaft verwirklicht sind.
Wiederaufbau oder „Eroberung“
Die weitere „Eroberung“ der alten Stadt in den letzten 30
Jahren erfolgte von Osten nach Westen. Heute sind nur noch
Rudimente der historischen Altstadt erhalten. Nach einem so
genannten „Wiederaufbauplan“ von 1975, der eigentlich in
keiner Beziehung zu den Folgen des Erdbebens mehr stand,
wurden in der historischen Altstadt neungeschossige
Wohnhochhäuser hochgezogen. Vor allem die ärmeren Bewohner
der Altstadt mussten als Ersatz für ihr Altstadthaus nun
eine Wohnung in den Apartmentblöcken beziehen.
Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion werden seit
Mitte der neunziger Jahre diese Wohnkomplexe in der Folge
der vollkommenen Privatisierung umgebaut und die ehemals
öffentlichen Freiflächen werden in privates Bauland
umgewandelt. Im Erdgeschoss der umgebauten Wohnblöcke
siedeln sich kleine Läden und private Dienstleistungen an.
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Ein moderner Hofhaustyp, der traditionelle Muster
aufgriff, entwickelte sich nach dem Fall der
Sowjetunion. Das Bild zeigt das Hofhaus eines
reichen Städters; die meisten können sich jedoch nur
eingeschossige Häuser leisten. |
Ein neuer alter HaustypusReichere Bewohner konnten in den Westen der Stadt
umsiedeln, um hier in einer Art Selbstbauweise ein neues
Haus zu errichten. Dabei bildete sich ein neuer Haustypus
heraus, der das traditionelle Hofhaus mit den Ideen der
russischen Gartenstadt verschmolz. Diese individuelle und
großzügige Bauweise führte jedoch zu einem immensen
flächenfressenden Siedlungswachstum auf den ehemaligen
Agrarflächen rund um die Stadt.
Der neue Typus des Hofhauses weist traditionelle Muster wie
eine Durchfahrt und einen Innenhof mit Loggia auf. Der
Vorteil des Hofhauses besteht in seiner Flexibilität je nach
den sozialen und ökonomischen Bedingungen der Familie und
erlaubt zudem eine landwirtschaftliche Nutzung. Wer reicher
ist, erweitert den Komplex zu villenartigen Wohngebäuden.
Dieser Haustyp bestimmt allmählich auch die Reste der
historischen Altstadt. Eingeschossige Gebäude aus der Zeit
der russischen Kolonialisierung werden durch große
Stadtvillen ersetzt, die immer von einer hohen Mauer umgeben
sind.
Da der Bevölkerungsdruck in den letzten Jahren spürbar
abnimmt, wenden sich die Stadtplaner heute den
Stadtumlandbeziehungen zu und versuchen, Maßnahmen gegen den
Flächenverbrauch durchzusetzen. Nur 60 Prozent der
notwendigen neuen Wohnungen dürfen noch auf freien Flächen
entstehen, der Rest muss auf wieder genutzten Flächen
realisiert werden.
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Der Umriss der heutigen Altstadt mit der aktuellen
Bebauung. In den hellen Flächen im Norden dominiert
das traditionelle Hofhaus. Die dunklen Bereiche
markieren die Erweiterungen der 60er Jahre und die
mittelgrauen Zonen vor allem im Süden zeigen das
Hofhaus neuen Typs. |
Grüne Oase in der Steppe Taschkents Zentrum ist heute geprägt von offenen und
weiten grünen Räumen, die von großzügigen Verkehrsachsen
durchzogen sind. Die großen städtebaulichen Ambitionen der
Sowjetzeit treten in den Hintergrund; viele der neuen
Wohngebiete orientieren sich wieder am Grundmuster der
orientalischen Stadt, das sich aus privaten, nach außen
geschlossenen Parzellen zusammensetzte. Keine
determinierenden Planungen, sondern informelle
Selbst-bildungsprozesse scheinen zum Credo für die zukünftige
Entwicklung zu werden.
Die Ergebnisse der Forschergruppe werfen für Annette Gangler
vom Stuttgarter Städtebau-Institut die Frage auf, ob nicht
Stadtstrukturen mit einer größeren Flexibilität und
Umbaufähigkeit auch eine stärkere Permanenz und
Widerstandskraft gegenüber koloniali-sierenden Eingriffen
besitzen. Die traditionelle Stadt mit ihren kleinräumigen
Gliederungen und individuellen Einheiten hat, davon sind die
Wissenschaftler überzeugt, zumindest in dieser Hinsicht
einen Vorteil gegenüber den einheitlichen Projektentwürfen
für Großsiedlungen und könnte aus diesem Grund vielleicht zu
einem neuen städtebaulichen Leitbild werden.
Gangler/eng
KONTAKT
Dr. Anette
Gangler
Arbeitsgruppe „Städte in Usbekistan“ Städtebau-Institut
Fachgebiet SIAAL-Städtebau in Asien, Afrika, Lateinamerika
(Prof. Dr. Erich Ribbeck)
Tel. 0711-121-3373
e-mail:
anette.gangler@si.uni-stuttgart.de
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