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Stuttgarter unikurier Nr. 94 Dezember 2004
Ein Besuch im Biomechanik-Labor:
Sportwissenschaften - Mehr als nur Spiel mit dem Ball
 

Im Verfügungsgebäude auf dem Vaihinger Campus haben Professor Wilfried Alt und sein Team im Juni ein „Studio der besonderen Art“ eingeweiht. Auch wenn Laufband und Kraftgerät entfernt an Trainingsgeräte in Sport-Studios erinnern - eine Sprunggelenkklappe wird man dort vergeblich suchen, die gibt es nur im „Biomechanik-Labor“ der Universität Stuttgart. Seit eineinhalb Jahren leitet Wilfried Alt den Arbeitsbereich Biomechanik und Bewegungswissenschaft am Institut für Sportwissen-schaften der Uni Stuttgart. Vorgenommen hat sich der Biologe und Sportwissenschaftler nicht weniger, als „in Stuttgart wieder die Biomechanik zu etablieren und dieser zu nationaler und internationaler Anerkennung zu verhelfen.“

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Obwohl das grüne Oval des Fußballplatzes die Aussicht am Allmandring 28 bestimmt: „Sport, das ist weit mehr, als dem Ball auf dem grünen Rasen hinterherzulaufen“, sagt Wilfried Alt. Wer Sportwissenschaften auf Lehramt oder Magister studiert, den Diplomstudiengang Sportwissenschaft mit Schwerpunkt Sportmanagement wählt oder dessen BA-Variante bevorzugt - um die Medizin kommt er nicht herum. Die knöchernen Präparate von Kniegelenk, Sprunggelenk und Fuß auf des Professors Schreibtisch machen dies eindrücklich klar - und auch Naturwissenschaften und Technik bleiben nicht außen vor, wie schon die Kooperationen mit den Instituten für Mechanik und Informatik belegen, mit deren Hilfe Messverfahren entwickelt und Simulationen erarbeitet werden.

 

Der Verletzungssimulator oder die „Umknickplattform“ zum funktionellen Test von Stabilisierungshilfen am Sprunggelenk.                (Foto: Institut)

Wissen um Bewegungsabläufe

Wie entstehen Verletzungen? Wie kommt es zu Fehlbelastungs-folgen? Diese Fragen stellen sich nicht nur hinsichtlich einer Teilnahme bei Olympia. Seine Sprunggelenke bewegt jeder Mensch, und Bewegung findet nicht nur beim Sport statt. „Ob ich einen Kaffee hole oder einen Dauerlauf mache, im Prinzip werden hierfür dieselben Muskeln eingesetzt“, sagt Wilfried Alt. Mit welcher Kombination aus Kraft-, Koordination und Gleichgewichtstraining alte Menschen Stürze verhindern können, wird in der Wissenschafts-disziplin Sport ebenso erforscht wie Übungen für ältere Skifahrer zur Verbesserung der Stabilität ihrer Kniegelenke, um Skiunfällen vorzubeugen. Für Letzteres interessiert sich neben dem Skiverband und dem Bundesinstitut für Sportwissenschaften besonders die ARAG-Sportversicherung - ist ihr doch aus einsichtigen finanziellen Gründen besonders an der Prophylaxe gelegen.

 

Wissen für Medizin und Sport

Auch die Frage, wie funktioniert Bewegung, wie werden die Muskeln koordiniert, muss nicht notwendigerweise an Sportlern geklärt werden. Diese Fragen werden „besonders relevant im Zusammenhang mit Krankheiten, bei denen ein Teil des Gehirns ausfällt“, erklärt Winfried Alt. Mit Trainingseinheiten sollen immer spezielle Organfunktionen verbessert werden, bei pathologischen Zuständen wie auch beim Spitzensportler. So schließt sich der Kreis zwischen Alltagssituation und Leistungssport. Alt und sein Team haben beispielsweise bei Parkinson-Patienten untersucht, ob bewegungstherapeutische Methoden eine Unterstützung zur der Behandlung mit Medikamenten sein können; eine geplante Kooperation mit der Geriatrie des Robert-Bosch-Krankenhauses wird voraussichtlich zu weiteren Forschungsarbeiten führen.

 

Sport profitiert

Und die „richtigen Sportler“? Die gibt es im Olympiastützpunkt Stuttgart. Für sie erarbeiten die Stuttgarter Wissenschaftler leistungsdiagnostische Maßnahmen hinsichtlich Koordination und Kondition und entwickeln Messverfahren. Wirklich interessant, nimmt Wilfried Alt an, wird in Zukunft die Forschung im Bereich der Interaktion zwischen biologischen Systemen und der Umwelt. Wie zum Beispiel sehen die optimalen Sportgeräte aus, ob Schuhe, Bogen oder Laufbahnbelag? Mit welchen Materialien ausgestattet kann einmal ein Tennis-schläger „mitdenken“? Und wie könnten „intelligente Materialien“ im richtigen Moment zum erwünschten Schutz beitragen?

 Aktuell begeistert sich Wilfried Alt für eine Promotionsarbeit, die sich damit beschäftigt, die interindividuelle Variabilität der Sprunggelenke per Messung zu erfassen. Anhand der Ergebnisse, so die Hoffnung, könnte man Risikogruppen definieren und diesen dann die entsprechenden Präventionsmaßnahmen anbieten - gerade viele Handballer, Volleyballer oder Basketballer leiden unter Knie- und Sprunggelenkproblemen, denen auf diese Wei-se vielleicht vorgebeugt werden könnte.

 

Im Labor

Nur einen kurzen Spaziergang vom Allmandring 28 entfernt, laufen im Biomechanik-Labor die letzten Vorbereit-ungen. Bevor die Messungen am Menschen erfolgen, liefert ein künstliches Sprunggelenk die Messdaten für den Computer. Rundum Hightech pur: Den Kameras in jeder Zimmerecke entgeht nichts, was sich in der Raummitte auf dem leicht erhöhten, schwarzen Boden abspielt. Wer sich hier bewegt, tut es für die Wissenschaft - mit 300 Hertz zeichnet das videobasierte Bewegungsanalysesystem alles auf, ob Sprung, Schritt ... Die im Boden integrierten Kraftmessplattformen messen die Reaktionskraft. Allein beim Gehen macht sie das 1,5-fache des Körpergewichts aus, beim Weitsprung das achtfache, beim Dreisprung gar das zwölffache, weiß Alt.
 

 

Eine Versuchsperson auf dem Beinkraft-messgerät;  synchron werden dabei die Muskelsignale (Elektromyografie) erfasst.                     (Foto: Institut)

Die Sprunggelenkklappe

Laufband, Kraftgeräte und ein Gleichgewichtskoordinator, der jeden Wackler unübersehbar auf dem PC-Monitor festhält, teilen sich die Wandplätze mit der Sprunggelenk-klappe, oder besser gesagt, der Verletzungssimulator-plattform. Mit ihrer Hilfe werden - unfallfrei - Sprunggelenk-verletzungen simuliert, zu denen es beim Umkippen des Fußes kommen kann. Ein Oberflächenelektromyogramm, das einem Fuß-EKG gleicht, zeichnet derweil auf, welche Muskeln aktiv sind und wie sie koordiniert werden. Viele Orthesen wurden schon auf der Sprunggelenkklappe getestet, denn seit 1994 gehört Wilfried Alt der „Arbeits-gruppe Orthopädische Biomechanik“ an, zusammen mit Prof. Albert Gollhofer von der Uni Freiburg und Dr. med. Heinz Lohrer vom Sportmedizinischen Institut in Frankfurt am Main. Nach rund 15.000 Tests soll die Klappe nun überarbeitet werden, sodass die Umkippgrade elektronisch einstellbar sind und nicht mehr, wie bislang, Handarbeit erfordern.

Interdisziplinarität
Interdisziplinarität ist Programm bei der Biomechanik, das steckt schon im Namen. Auch Internationalität ist wichtig, eine Doktorandin arbeitet zum Beispiel gerade in Australien. Und wenn einmal ein reicher Scheich mit seinen Rennkamelen um Hilfe nachfragen sollte? Allzu lange müsste Wilfried Alt wohl nicht überlegen, denn Bewegung ist Bewegung, ob alt oder jung, ob Mensch oder Tier ... und dann könnten damit ja auch vielleicht Mitarbeiterstellen finanziert werden, denn die öffentliche Forschungsförderung liegt schon sehr im Argen, muss der Professor leider immer wieder feststellen.
 

Julia Alber

 

KONTAKT

Prof. Dr. Wilfried Alt
Institut für Sportwissenschaft
Tel. 0711/685-3168
e-mail: wilfried.alt@sport.uni-stuttgart.de

 

 


last change: 18.12.04 / yj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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