Wenn Menschen im Erwachsenenalter einen Hörverlust
erleiden, ist nicht nur ihr auditives Sprachverstehen
betr-offen, sondern auch das Sprechen. Während die
Produktion von Lauten, Silben und Wörtern noch über längere
Zeit, manchmal über Jahre, stabil und verständlich bleibt,
leidet die so genannte Prosodie der sprachlichen Äußer-ungen
unmittelbar. Unter dem Begriff Prosodie werden Sprachmelodie,
Betonung, Phrasierung, Lautstärke und Sprechtempo
zusammengefasst. Offenbar sind prosodische Eigenschaften
beim Sprechen stärker auf eine un-mittelbare auditorische
Rückmeldung angewiesen als segmentale, das heisst laut- und
silbenorientierte, Merk-male. Daraus haben Phonetiker die
Hypothese abgeleitet, dass segmentale Produktionsziele, wenn
sie im Spracherwerb einmal gelernt wurden, in Form stabiler
und robuster Modelle gespeichert sind, prosodische Merkmale
jedoch nicht.
Prosodische Mermale
Die Arbeitsgruppe um Prof. Grzegorz Dogil und Dr. Bernd
Möbius konnte nun jedoch zeigen, dass auch einige
prosodische Merkmale stabile Produktionsziele besitzen.
Besonders deutlich wird dies im fremdsprachlichen Akzent.
Dieser entsteht dadurch, dass sich die im Erstspracherwerb
gelernten Klangvorstellungen nicht so einfach durch die der
Zweitsprache ersetzen lassen, sondern auf sie abfärben, und
zwar nicht nur auf der laut-lichen, sondern eben auch auf
der prosodischen Ebene. Häufig erkennt man einen
Ni.htmluttersprachler an seiner Sprachmelodie und weniger an
seiner Aussprache.
Kategoriale Wahrnehmung
Ein weiteres Ergebnis: Nicht nur Sprachlaute, sondern
auch prosodische Merkmale werden kategorial wahrgeno-mmen.
Kategoriale Wahrnehmung liegt vor, wenn der Hörer von der
konkreten akustischen Realisierung sprach-licher Äußerungen
abstrahieren und auf die zugrunde liegenden Lautkategorien
schließen kann. Auf diese Weise kann der Hörer den ersten
Konsonanten in „Suppe“ und in „Sippe“ jeweils als
stimmhaftes „s“ identifizieren, obwohl sich die akustischen
Spektren der beiden „s“-Versionen durch den Einfluss des
folgenden Vokals stark unterscheiden. Die Stuttgarter
Forscher konnten nachweisen, dass auch prosodische Grenztöne
kategorial wahrgenommen werden, also die Tonhöhenbewegungen,
die anzeigen, ob ein Satz als Frage oder Aussage gesprochen
wurde.
Das Projekt ist als Grundlagenforschung einzustufen,
doch sollen die Ergebnisse auch in der angewandten Forschung
eingesetzt werden. Die Modelle werden derzeit in ein
Sprachsynthesesystem integriert, das gesch-riebenen Text in
gesprochene Sprache konvertiert. Wenn die Modelle die
menschliche Sprachproduktion adäquat beschreiben, sollte
sich dies auch in einer natürlicheren und veständlicheren
Sprachsynthese niederschlagen.
Bernd Möbius/amg
KONTAKT
Prof. Dr. Grzegorz Dogil
Institut für Maschinelle
Sprachverarbeitung
Tel. 0711/121-1379
Fax 0711/121-1366
e-mail:
grzegorz.dogil@ims.uni-stuttgart.de