„Es war für mich nicht immer selbstverständlich, nach
Deutschland zu fahren. In meiner Jugend genügte schon das
Wort „Deutschland, um Schmerz - einen schwer sagbaren
Schmerz - , aber auch Trauer und Wut auszu-lösen... Ich bin
der Sohn von Juden, die die Shoah überlebt haben; von den
wenigen polnischen Juden, die dem Massaker entkommen sind.
Meine gesamte sonstige Verwandtschaft wurde vernichtet“,
sagte Professor Beres-tycki. „Meine Großeltern sind im
zweiten Weltkrieg umgekommen, einer in einem
Vernichtungslager und drei im Ghetto von Lodz. Zehn Brüder
und Schwestern meiner Eltern sind von den Nazis ermordet
worden, und mit ihnen zahlreiche Kinder und sogar Babys.
Alle - Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen -
ohne Grabstätte. Meine Mutter war in Auschwitz (in der „Nazitodesmaschine,
wie es kürzlich hier in einer Zeitung hieß), und sie hat
überlebt. Mein Vater hat überlebt, indem er vierzehn Monate
lang in den Abwasserkanälen von Lemberg, dem heutigen Lvov,
zubrachte. Mit Ausnahme einer von meinem Vater organisierten
Gruppe und ein paar in einem Kloster außerhalb der Stadt
versteckten Personen hat niemand aus dem Lemberger Ghetto
überlebt. Wie Sie wissen, wurde in eben dieser Stadt unter
vielen anderen Juden auch der berühmte Mathematiker Julius
Schauder ermordet.“
Es war das erste Mal, dass Henri Berestycki, den zuvor
schon Forschungskontakte nach Deutschland geführt hatten,
über dieses Thema sprach. In einem Gespräch mit dem
unikurier erzählte er die Geschichte seiner Familie. Seine
Eltern, die beide ihre früheren Ehepartner durch das
Naziregime verloren hatten, gelangten 1948 über Umwege nach
Paris. Dort wurde Henri Berestycki 1951 gebo-ren und wuchs in
eher armen Verhältnis-sen auf. Sein Vater, ur-sprünglich
Schlosser von Beruf, sicherte das Überleben der Fami-lie mit
einer Schneiderwerkstatt. Seine Mutter war es, die den
kleinen Henri, dessen Begabung bald erkennbar wurde, zum
Lern-en ermutigte. Und sie ermöglichte ihm eine entsprechende
Aus-bildung: nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1968 nahm sie
im Alter von mehr als 50 Jahren erstmals eine
Berufstätigkeit außer-halb des Hauses auf und sorgte mit
ihrer Arbeit in einem Schnei-deratelier für den notwendigen
finanziellen Rückhalt.
Die Schrecknisse der Vergangenheit standen nicht im
Vorder-grund. „Meine Eltern sprachen wenig über diese Zeit“,
erinnert sich Prof. Berestycki, „ich lernte allmählich,
kannte aber keine Details“. Und es war für ihn keine
belastete Jugend, erzählt er. Seine Eltern, die sehr stolz
auf ihre jüdische Herkunft waren - so lehnten sie
beispielsweise bei der Einbürgerung in Frankreich eine
Namensänderung ab -, wurden ihm „zum Vorbild für Mut,
Großherzigkeit und Integrität“. Und sie vermittelten ihm „Freude
am Dasein“.
|
|
Erst als Berestycki, inzwischen längst ein bekannter
Mathematik-er, für den Humboldt-Forschungspreis nominiert
wurde und zunäch-st unschlüssig war, ob er diesen annehmen
könne, begann er in ausführlichen Gesprächen mit seiner
heute 89-jährigen Mutter, die Geschichte seiner Familie
genauer zu erforschen. Und er entschlo-ss sich, darüber zu
sprechen - seine Mutter, seine Frau und auch seine
erwachsenen Kinder ermutigten ihn dazu. „Es war nicht leicht,
den Preis anzunehmen“, sagt er. Die Rede, die er in
Stutt-gart auch zur Überraschung mancher Freunde hielt, „war
das Er-gebnis langer, harter Arbeit“.
„Die Welt der Mathematik hilft einem, so manche
Schwierigkeit zu überwinden“, sagt er. So begegnete er in
Deutschland Kollegen, die er im Lauf der Jahre regelmäßig
und gern wiedersah. Die An-nahme des Preises erleichtert hat
dem Gast letztlich die hier ge-leistete „beachtliche
Gedächntisarbeit“. Als „überzeugende Bei-spiele“ nennt er die
Reden von Bundeskanzler Schröder anlässlich der sechzigsten
Wiederkehr der Befreiung von Auschwitz sowie die Rede von
Bundespräsidenten Köhler in Israel.
„Ich konnte in dieses Land kommen und darin nach und nach
wiederentdecken, was ich an diesem Land liebe, seine Kultur,
die ich bewundere, die erstaunliche Vertrautheit mit der
Sprache und mit gewissen Bräuchen, die ich von meiner
Familie her kenne und hier wiederfinde. Eigentlich eine
recht seltsame Vertrautheit“, sagt Henri Berestycki.
Gewidmet hat Berestycki den Alexander von Humboldt-Preis
sein-em verstorbenen Vater Jakob
Berestycki und seiner Mutter Gitla Friede-Berestycki.
Humboldt
wusste - wie Berestycki hervor-hebt - schon in seiner Jugend
den Vorurteilen seiner Zeit zu widerstehen - er verkehrte in
den jüdischen Salons in Berlin, „wo der Geist der Aufklärung
wehte. Seine visionäre Begabung, sein abenteuerlicher,
unternehmungsfreudiger Geist, seine multidisziplinäre
Vorgehens-weise, seine Fähigkeit, politische, geographische
und wissen-schaftliche Grenzen zu ignorieren, alles im
Dienste der Erkenntnis, aber auch einer nie versagenden
Humanität: diese Tugenden müssen uns als Lehre dienen, die
man sich nicht oft genug vor Augen führen kann“.
Zi
|
Zur Person |
Henri Berestycki (54) ist Vizepräsident
der in Frankreich hoch angesehenen Ecole des Hautes Etudes
an Sciences Sociales und Direktor des zu diesem
interdiszplinären Forschungsinstitut gehörenden Centre
d'Analyse et de Mathématique Sociale (Paris). Er gilt als
einer der führenden Mathematiker auf dem Ge-biet der
nichtlinearen Analysis und der nichtlinearen partiellen
Differentialgleichungen. Seine Resultate über sich
ausbreitende Fronten bei reaktiven Prozessen erlauben
erstmalig, das Ausbreitungsverhalten von Explosionswellen
sowie gekrümmten Wellenfronten in heterogenen Medien
mathematisch zu ver-stehen. Zudem hat er mathematische
Modelle der chemischen Verbrennung, der Supraleitung, der
mathematischen Biologie sowie für die Finanzmathematik
entwickelt. Im Rahmen seines Alexander von Humboldt-Forschungspreises
arbeitete Henri Berestycki mit seinen Stuttgarter Gastgebern,
Professor Wolfgang Wendland und Dr. Messoud Efendiev, vor
allem über Fronten bei nichtlinearen
Reaktions-Diffusionsgleichungen. Zur Zeit arbeitet er auch
an modernen Theorien in den Sozialwissenschaften zur
Beschreibung kollektiven Verhaltens. Er schätzt an der
Mathematik besonders die Erkennung von Gesetzmäßigkeiten und
die Vielseitigkeit der Anwendungen. Im Rahmen des mit 50.000
Euro dotierten Preises besucht Henri Berestycki in diesem
Jahr weitere Forschungsinstitutionen in Deutschland,
darunter Köln, Berlin, Leipzig und erneut Stuttgart.
zi
|
|