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Am 31. Mai 2005 vollendete einer der großen Pioniere des Leichtbaus, der Stuttgarter Architekt und Konstrukteur Frei Otto, sein 80. Lebensjahr. Frei Otto leitete im Zeitraum von 1964 bis 1991 das Institut für Leichte Flächentragwerke (IL), das nach der Verschmelzung mit dem Institut für Konstruktion und Entwurf II im Jahr 2000 nun Institut für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) heißt.
Frei Otto wurde 1925 geboren. Er studierte ab 1948 Architektur an der TU Berlin und promovierte dort 1953 mit der berühmt gewordenen Arbeit „Das hängende Dach“, die 1954 als Buch erschien. Die Jahre danach waren von der Arbeit in seinem Berliner Atelier geprägt. In dieser Zeit entstanden eine Vielzahl grundlegender Untersuchungen über die Prinzipien des Leichtbaus, insbesondere zu Minimalflächen, Seilnetz- und Membrankonstruktionen. Ebenfalls in dieser Zeit entwarf Frei Otto auch eine Reihe kleinerer, aber wichtiger Bauten, beispielsweise für mehrere Bundesgartenschauen. Noch heute erhalten ist davon die Überdachung des „Tanzbrunnens“, die anlässlich der Bundesgartenschau 1957 in Köln errichtet wurde. Nach einer Reihe von Gastprofessuren an den Universitäten Washington, Ulm, Yale, Berkeley, MIT und Harvard wurde Frei Otto 1964 als Honorarprofessor an die Universität Stuttgart berufen. Mit der Berufung erfolgte die Gründung des Instituts für Leichte Flächentragwerke. Seit 1967 forschte und lehrte Frei Otto als ordentlicher Professor an unserer Universität.
Die Anfangsjahre Frei Ottos an der Universität waren sehr stark durch die Planung der Bauten der Olympischen Spiele 1972 geprägt, für die eine ganze Reihe von Instituten der Universität grundlegende Entwicklungs- und Forschungsarbeiten leisteten, ohne die eine Realisierung der Bauten der olympischen Spiele nicht möglich gewesen. Ein interdisziplinäres Forscherteam, in dessen Kern zunächst das Team um Frei Otto stand, legte in dieser Zeit die Grundlagen für die computergestützte Formfindung und Berechnung großer Seilnetzkonstruktionen, deren konstruktive Durchbildung, Berechnung und Dimensionierung. Das in dieser Zeit an der Universität Stuttgart entstandene Wissen, welches durch den Sonderforschungsbereich 64 „Weitgespannte Flächentragwerke“ und schließlich durch den Sonderforschungsbereich 230 „Natürliche Konstruktionen“ fortgeführt und kontinuierlich erweitert wurde, bildet die Grundlage für die weltweite Spitzenposition der Universität Stuttgart im Bereich des Leichtbaus in Architektur und Bauingenieurwesen.
Der interdisziplinäre Arbeitsansatz zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Schaffen von Frei Otto. Bereits 1961 gründete er zusammen mit dem Biologen Johann-Gerhard
Helmcke in Berlin die Forschungsgruppe „Biologie und Bauen“. Aus dieser Zusammenarbeit mit
Helmcke und einer Reihe anderer Wissenschaftler, darunter Biologen, Mediziner, Sozialforscher, entstanden grundlegende Erkenntnisse über die Konstruktionsprinzipien in der lebenden und in der nichtlebenden Natur. Die Arbeiten des Sonderforschungsbereichs „Natürliche Konstruktionen“ stellten einen Höhepunkt in dieser Richtung und eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse dar. Diese und viele andere Kooperationen, über die hier im Detail nicht berichtet werden kann, führten zu einer Vielzahl neuer Erkenntnisse und Sichtweisen von auch heute noch – oder besser: gerade heute wieder – hoher Aktualität. Frei Otto hat die Architektur des 20. Jahrhunderts grundlegend beeinflusst.
Frei Otto emeritierte 1991. Er ist seither in einem arbeitsreichen „Ruhestand“, trägt als kritischer Geist noch immer zur Weiterentwicklung der Architektur bei und ist ein viel gefragter Redner. Er ist ein begehrter und engagierter Berater, so etwa bei den Planungen des Tiefbahnhofs in Stuttgart. Frei Ottos Schülerinnen und Schüler kamen aus der ganzen Welt nach Stuttgart. Viele von ihnen wurden selbst akademische Lehrer und tragen so die Früchte der Arbeit des Teams um Frei Otto in die Welt. Seine akademischen Schüler, zu denen auch ich gehöre, wünschen Frei Otto zu seinem 80. Geburtstag alles erdenklich Gute, Glück und Gesundheit sowie viele weitere Jahre fruchtbarer Arbeit gemäß seinem bekannten Satz: „Ich entwerfe nicht, ich suche.“
Werner Sobek
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