Der kulturhistorische Ansatz lässt sich am Beispiel einer verheerenden Flut in Florenz im November 1333 veranschaulichen: Der nach einer längeren Regenperiode mächtig angeschwollene Arno riss die Brücken im Stadtgebiet mit sich und überschwemmte die Quartiere längs des Flusses. Mauern stürzten ein, Menschen ertranken. Der Florentiner Geschichtsschreiber Giovanni Villani erzählt in seiner Chronik von dieser Flut und gibt die Diskussionen der Zeitgenossen über deren Ursache wieder: Handelte es sich um den Lauf der Natur oder einen (warnenden oder strafenden) Eingriff Gottes? Villani erörtert die meist von Astrologen entwickelten zeitgenössischen Erklärungsmodelle, wie etwa eine ungünstige Konstellation der Gestirne. Doch die Florentiner blieben dabei nicht stehen: Der Blick auf kaum bekannte Reaktionen der Kommune Florenz öffnet sich, wenn neben Chroniken und Predigttexten auch die teilweise erhaltenen Akten und Amtsbücher der städtischen Verwaltung in die Untersuchung einbezogen werden.
Die dort festgehaltenen Maßnahmen erlauben Rückschlüsse auf Umgangsweisen mit Katastrophen, die als ‚Theorien der Praxis‘ gleichberechtigt neben bekannte Deutungs- und Reaktionsschemata treten. Man findet pragmatische Maßnahmen, mit denen die Folgen der Katastrophe im Alltag gemildert wurden: Die Errichtung von Behelfsbrücken und Ersatzmärkten oder Steuersenkungen für Getreideimporteure zur Sicherstellung der Versorgung. Die politische Führung war keineswegs zukunftsblind und stellte sich den Problemen auch auf längere Sicht. So diskutierte der Stadtrat, ob die Verbauung des Flussbettes mit Mühlen und Fischreusen ursächlich an der Überschwemmungskatastrophe beteiligt gewesen war. Er versuchte, durch Bauverbote das Risiko erneuter Überschwemmungen zu minimieren.
Doch die Mittel und Maßnahmen – ohnehin nur lasch befolgt – reichten nie aus. Trotz vieler Planungen und Maßnahmen blieb es dabei: Mindestens einmal in jedem Jahrhundert – zuletzt am 4. November 1966 – überflutete der Arno die Stadt. Die Metropole Florenz gedieh und gedeiht dennoch. „Die Fähigkeit zur Anpassung an die wiederkehrenden katastrophalen Umstände stellt offenbar einen nicht nur destruktiven, sondern in seinen Langzeitwirkungen nicht zu vernachlässigenden konstruktiven Faktor der Entwicklung von Stadt, Gesellschaft und Kultur dar“, vermutet Projektleiter Dr. Gerrit J. Schenk.
Agenten des kulturellen Wandels
Vor diesem Hintergrund untersuchen die in dem Netzwerk kooperierenden Wissenschaftler, wie Katastrophen als formatives Element auf Gesellschaften und Kulturen einwirken, die ihrerseits spezifische Wege des Umgangs mit Katastrophen entwickeln. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes, der die Verwundbarkeit von Kulturen und Gesellschaften als das Ergebnis komplexer, historisch induzierter Kausalzusammenhänge im Schnittpunkt von Natur und Kultur begreift, richten sie ihren Blick auf kulturspezifische Modelle der Deutung, Bewältigung und Prävention von Katastrophen. Durch die Thematisierung der Historizität und die damit verbundenen Wiederholungserfahrungen und -erwartungen geraten die Formen des Umgangs mit Gefahren als Agenten des kulturellen Wandels in den Mittelpunkt des Interesses. Katastrophen werden nicht nur, wie die jüngere Forschung betont, sozial und kulturell konstruiert, sondern sie wirken ihrerseits in unterschiedlichem Ausmaß an der Konstruktion von Kulturen und Gesellschaften mit. Dabei spielen kulturell überformte und medial vermittelte individuelle und kollektive Erinnerungen an Katastrophen, spezifisches lokales Wissen, praktische Erfahrungen und theoriegeleitete Analysen eine, je nach Kultur und Gesellschaft, einzigartige Rolle.
Angesichts der Bandbreite der untersuchter Epochen und Kulturen schärft der historisch ausgerichtete Zugriff den Blick für aktuelle Probleme des Katastrophenmanagements. Bislang bleiben lokales Wissen und bewährte Praktiken zum Schaden aller Beteiligten oft ungenutzt. Historisch forschende Wissenschaftler könnten folglich einen Beitrag zum Verständnis aktueller Probleme und Chancen des Katastrophenmanagements leisten, die aus soziokulturellen Besonderheiten des Umgangs mit Katastrophen resultieren.
Zum Auftakt der Forschungsarbeiten fand im März die Fachtagung „Historische Erforschung von Katastrophen“ statt. Die Tagung thematisierte Stand und Perspektiven der Erforschung von Katastrophen in kulturvergleichender Perspektive. Dabei reichte das Themenspektrum von den Hochkulturen der Antike in Europa, dem Nahen und Mittleren sowie Fernen Osten über die Vormoderne in Europa bis zur Moderne.
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