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Aus der Erweiterung haben sich zwei Folgen ergeben: Zum einen die Notwendigkeit, die Literaturgeschichte umzuschreiben, denn die kulturellen Austauschprozesse im Empire sind nicht nur neueren Datums. Die zweite Konsequenz ist die notwendige Öffnung der Literaturwissenschaft zum Bereich der cultural studies hin, da die kolonialen und postkolonialen Fremdkulturen nur über einen interdisziplinären Ansatz – für den auch das neue Bachelor-Programm in der Stuttgarter Anglistik einsteht – erschließbar sind.
Die Stuttgarter Anglistik befasst sich seit geraumer Zeit mit der theoretischen Modellierung sowie der literarischen Gestaltung postkolonialer Austauschprozesse. Literarische Texte werden dabei als sensible „Seismographen“ gesellschaftlicher Spannungen und Verwerfungen gelesen – nicht nur wegen ihrer ästhetischen und interdiskursiven Natur, sondern auch deshalb, weil sie meist von westlich gebildeten Eliten verfasst sind, die selbst intensiven Prozessen der Hybridisierung unterworfen und daher oftmals von der eigenen Bevölkerung zumindest teilweise entfremdet sind.
Bei der Modellierung von Arten des Kulturaustauschs ist zunächst grundsätzlich zwischen Siedlungskolonien (Kanada, Australien) und Eroberungskolonien (Südafrika, Teile Indiens) zu unterscheiden. Darüber hinaus müssen lokale ethnische, politische, ökonomische Gegebenheiten berücksichtigt werden. Bei einem gewissen Abstraktionsgrad lassen sich allerdings durchaus ähnliche Strukturen beobachten. So lassen sich beispielsweise Abläufe bei den so genannten Eroberungskolonien partiell auch auf Vorgänge der internen Kolonisation (oder Marginalisierung), etwa der Afroamerikaner, übertragen.
Kulturaustausch in drei Stufen
Im frühen Stadium der Kolonisierung ist zunächst oft die Nachahmung der dominanten Kultur durch die so genannte marginale Kultur zu beobachten, zuweilen gar deren völlige Vereinnahmung, wobei ‚neue Eliten’ bei der Assimilation des Fremden am aktivsten sind. In einer zweiten Phase kommt es zu verschiedenen Arten der Zurückweisung der dominanten Kultur, verbunden mit der intensiven – nun oft schon retrospektiven – Suche nach dem Eigenen. Dieses Phänomen wird negativ, weil den kulturellen Wandel negierend, als nativism oder essentialism bezeichnet. Hierbei kann es auch zur Umkehrung von rassistischen Stereotypen kommen, in dem zum Beispiel Weiße als Teufel dargestellt werden.
Diesem Modell folgte beispielsweise die afroamerikanische black power-Bewegung der sechziger Jahre. Auch neuere Versuche von afrozentrischen Intellektuellen, sun people gegen lebens- und lustfeindliche sowie habgierige ice people abzugrenzen – mit der Argumentation, letztere seien durch den härteren Überlebenskampf in unwirtlichen Gegenden genetisch benachteiligt(!) –, sind in diesem Kontext zu sehen. Erst in späteren Phasen kommt es zu unterschiedlichen Formen kultureller Vermittlung, wobei partiell entfremdeten Eliten eine Avantgarde-Funktion zukommt und sich idealiter zwischen den Kulturen neue Formen von hybrider Kultur entwickeln können.
Die Forschungen der Stuttgarter Anglistik konzentrieren sich auf Hybridisierungsprozesse und Fragen der kulturellen Übersetzung von Leitvorstellungen der anglophonen Kultur in Zonen intensiven Kulturkontakts. Es geht dabei unter anderem um die Tragweite von Vorstellungen von technischem Fortschritt, von Aufklärung, Humanismus, Kapitalismus und Selbstbestimmung und um ihre Problematisierung oder Neuinterpretation in unterschiedlichen postkolonialen Texten. Auch Fragen der Singularität und der Unausweichlichkeit von Globalisierungsschüben oder andererseits ihre Übersetzung und Pluralisierung stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Die DFG und das Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) unterstützen die Forschungen und die postkolonialen Tagungen, deren nächste für 2007 geplant ist. Sie wird sich mit der aktuellen Diskussion um Konzepte des Transnationalen befassen.
Walter Göbel/amg
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