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Über 20 Länder Europas beteiligen sich am European Social Survey (ESS), dem derzeit größten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt. Die seit 2002 laufende Studie hat zum Ziel, die Interaktion zwischen den sich wandelnden politischen und ökonomischen Institutionen und den Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensmustern der Bevölkerung der jeweiligen Länder zu beschreiben und zu erklären. Das deutsche Teilprojekt, dem Prof. Oscar W. Gabriel und Katja Neller vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart sowie Wissenschaftler aus Mainz, Köln und Mannheim angehören, wird bis zum Jahr 2015 von der DFG mit insgesamt rund 4,5 Millionen Euro unterstützt.
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Im Sommer 2006 startet die dritte Umfragewelle, in deren Folge rund 3000 Personen in Deutschland interviewt werden. Oscar W. Gabriel spricht von „einem wichtigen Projekt“, da es zwar nationale Umfragen gibt, der ESS sich jedoch durch die sehr hohe Stichprobenqualität, die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Länder und eine große Themenvielfalt auszeichne. Während im Standardfragebogen verschiedene Orientierungen und Verhaltensweisen, wie Mediennutzung, soziales und politisches Vertrauen, politisches Interesse, Wahlbeteiligung, Religion, subjektives Wohlbefinden und subjektiv empfundene Diskriminierung interessieren, steht in den Wechselmodulen 2006 die Lebensplanung der Menschen im Vordergrund. Gefragt wird unter anderem nach dem idealen Lebensalter für Heirat und Familiengründung, den Bau eines Hauses oder den Renteneintritt.
Tricksen bei Kavaliersdelikten
Bei den Umfragen 2002 und 2004 wurde unter anderem nach dem Profil eines „guten Bürgers“ gefragt, nach Gesundheit, Wirtschaftsmoral und Wirtschaftsethik. „Wenn man richtig Geld verdienen will, kann man sich nicht immer ehrlich verhalten“: 52 Prozent der Griechen, 47 Prozent der Polen und 46 Prozent der Schweizer stimmen dem zu. In Deutschland glauben dies nur 35 Prozent – allerdings mit einem West-Ost-Gefälle von 33 zu 41 Prozent. Als ehrlichste Haut entpuppten sich die Portugiesen mit 19 Prozent. Bei so genannten „Kavaliersdelikten“, wie die Mehrwertsteuer umgehen, zu viel Wechselgeld behalten oder bei der Steuererklärung schwindeln, hat Katja Neller herausgefunden: „Die Deutschen neigen dazu, diese nicht so eng zu sehen.“
Hinsichtlich dem politischen Vertrauen, der Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen, dem Vertrauen in politische Institutionen, der politischen Aktivität, dem sozialen Engagement und interpersonellen Vertrauen haben die Wissenschaftler in Europa ein West-Ost-Gefälle sowie im Westen ein Nord-Süd-Gefälle vorgefunden. „Die Ostdeutschen sind im Osten etwas Besonderes“, sagt Gabriel. Allerdings: „Ost- und Westdeutschland gleichen sich an“ - obgleich die Westdeutschen mehr Vertrauen zu ihren Mitmenschen haben, die Medien eher für politische Informationen nutzen, der Religion einen höheren Stellenwert einräumen und weniger fremdenfeindlich sind. Dass die wirtschaftliche Lage direkt die Bewertung des politischen Systems beeinflusst, zeigt Deutschland derzeit besonders deutlich: Die Zufriedenheit der Bevölkerung sank auf allen Gebieten stark und hat sich zum Beispiel, was das Funktionieren des demokratischen Systems betrifft, verglichen mit Daten aus den 70er Jahren, halbiert.
Integration und Dienstleistungssektor
Die europäische Integration – 55 Prozent der Luxemburger geht sie zu weit, gefolgt von den Finnen, Schweden, Österreichern und Briten. In Deutschland sehen 38 Prozent diese Entwicklung skeptisch, in Polen dagegen nur 16 Prozent. Banken und Versicherungen stehen in Deutschland im europäischen Vergleich schlecht da – gerade mal 31 Prozent der Bevölkerung setzt Vertrauen in sie, und nur die Griechen sind noch vorsichtiger. Reparaturdienste und Behörden genießen bei 41 beziehungsweise 44 Prozent der Deutschen Vertrauen. Die besten Reparaturen scheint man in der Schweiz zu bekommen, dort trauen 68 Prozent ihren Handwerkern, im Gegensatz zu 27 Prozent der Briten.
Rund 60 Prozent Teilnehmerquote in Deutschland – „gute Zahlen“ finden Oscar W. Gabriel und Katja Neller. Die Griechen waren gar zu 80 Prozent mit dabei, nur die Schweizer zeigten sich mit 35 Prozent „umfrageresistent“. Die Zahl der osteuropäischen Teilnehmerländer soll bis zu den nächsten Umfragen weiter ausgebaut werden.
Bleibt die Frage: Wie ehrlich gehen wir miteinander um?
59 Prozent der Polen befürchten, in Zukunft unehrlich behan-delt zu werden, wie auch 21 Prozent der Deutschen. Schweden, Norweger, Schweizer und Dänen teilen diese Befürchtung nicht einmal zu 10 Prozent und sogar die Briten und Estländer sind mit 18 und 16 Prozent weniger pessimistisch.
amg
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