Um bei tiefen und großflächigen Verletzungen lebenswichtige Körperfunktionen der Haut zu erhalten und Infektionen zu vermeiden, müssen die Wunden frühzeitig verschlossen werden. Am besten geeignet waren dazu bisher Spalthauttransplantate, die an anderen Körperstellen des Patienten gewonnen wurden. Gerade bei großflächigen Verbrennungen, aber auch bei älteren Menschen und Kindern stößt dies jedoch an Grenzen – zumal die zusätzliche Wunde dem Patienten erhebliche Schmerzen bereitet, ein weiteres Infektionsrisiko darstellt und die eigentlich erforderliche frühzeitige Mobilisierung behindert. Aber auch bei konservativ behandelten Verbrennungen zweiten Grades sind die täglich erforderlichen Verbandwechsel eine Qual für Patienten und Personal. Da das Verbandmaterial durch das Wundsekret mit der Wunde verklebt, wird diese beim Wechseln ständig wieder aufgerissen. Dies verzögert den Heilungsprozess und führt oft zu Narben.
Um diese Belastungen zu reduzieren, entwickelte das ITV in enger Zusammenarbeit mit dem Schwerbrandverletztenzentrum am Stuttgarter Marienhospital sowie dem Hersteller PolyMedics Innovations den Hautersatz Suprathel. Die resorbierbare, papierdünne Membran wird auf die zerstörten Hautpartien nach deren Reinigung aufgelegt und von der Wundflüssigkeit und dem Blut auf der Wunde fixiert. Darüber kommt lediglich eine schützenden Bandage aus Parafin-Gaze. Da Suprathel durchlässig für Wasserdampf ist, verhindert die Ersatzhaut die Ansammlung von Wundsekret ebenso wie ein Austrocknen der Wunde. Ein solcher „Verband“ muss weder gewechselt noch entfernt werden. Die Membran fördert die Hautneubildung, bis schließlich die Wunde vollständig verschlossen ist. Dann fällt sie ab oder kann schmerzfrei abgelöst werden.
Deutlich weniger Schmerzen
„Für den Patienten bringt dies enorme Vorteile“, erklärt ITV-Leiter Prof. Heinrich Planck, Lehrstuhlinhaber für Textiltechnik der Uni und Koordinator des Interuniversitären Zentrums Stuttgart – Tübingen für medizinische Technologie. (IZST). Während konventionell behandelte Verbrennungsopfer oft über schier unerträgliche Schmerzen klagen, leiden Suprathel-Patienten erheblich weniger. So überschritt der Wundschmerz bei klinischen Tests auf einer von null (kein Schmerz) bis zehn (maximaler Schmerz) reichenden Skala nur in elf Prozent der Fälle den Wert drei. Alle anderen lagen darunter. Dabei tritt die schmerzlindernde Wirkung sofort nach Auflage der Ersatzhaut ein und hält über den gesamten Therapieprozess an.
Schnelle und gleichmäßige Heilung
Zudem heilt die Haut schneller und gleichmäßiger, störende Narben bleiben in der Regel aus. Wundinfektionen oder die Entstehung von Allergien waren bisher nicht festzustellen. Auch im langfristigen Vergleich schneidet der Hautersatz gut ab. Während konventionell behandelte Verbrennungsopfer oft noch nach Jahren über eine Berührungsempfindlichkeit der betroffenen Körperpartien klagen, kommt dieses Phänomen bei den Suprathel-Patienten bisher nicht vor. Es wird vermutet, dass die geschädigten Nervenenden durch die Membran geschützt werden und sich so in Ruhe regenerieren können.
Aber auch Ärzte und Krankenhäuser profitieren. Da Suprathel nach dem Auflegen durchsichtig wird, lässt sich das Fortschreiten des Heilungsprozesses gut beurteilen. Zudem kann die Behandlung mit Suprathel Kosten sparen. Zwar ist der Wunderstoff nicht gerade billig. Verbrennungsopfer können jedoch schneller vom Sterilraum in ein normales Krankenzimmer verlegt werden. Da die 37 Grad warmen Spezialkabinen täglich mit etwa 2.000 Euro zu Buche schlagen, ist das auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt. Zudem können die Patienten schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Vor allem Milchsäure
Chemisch gesehen besteht Suprathel aus einem Terpolymer auf der Basis von Polymilchsäure. Es wird schmelzpolymerisiert und zu einer Membran verarbeitet. So entsteht ein Material, das extrem viele extrem feine Poren enthält. Diese sind so dicht, dass keine Bakterien sie durchdringen können, der Wasserdampf jedoch abgegeben werden kann. Suprathel ist äußerst verformbar und passt sich bei Körpertemperatur sofort der Körperoberfläche an. Auch schwierig zu behandelnde Areale wie Finger oder Zehen können so versorgt werden.
In der von Dr. Helmut Hierlemann, einem Chemiker am ITV, entwickelten Ersatzhaut stecken rund zwölf Jahre Forschungsarbeit. Begonnen hat es mit einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Grundlagenprojekt. Dort ging es um die Entwicklung von resorbierbaren Membranen, die sich im Körper langsam auflösen. Drei Jahre lang wurde Suprathel am Marienhospital klinisch erprobt. Trotz der verblüffenden Behandlungserfolge waren die Ärzte zunächst skeptisch. Inzwischen jedoch setzen etliche Verbrennungszentren in Europa das künstliche Epithel ein, insgesamt wurden bis jetzt über 1.000 Patienten erfolgreich behandelt. Der Hersteller hofft, Suprathel bald auch auf dem US-amerikanischen Markt platzieren zu können.
Wunderhaut mit Potential
Am ITV forschen die Wissenschaftler derweil an künftigen Einsatzbereichen. Kurzfristig soll die Zulassung auf Verbrennungen dritten Grades ausgeweitet werden. Bei Zahnimplantationen könnte Suprathel bald die bisher gebräuchlichen Titan- oder Teflonfolien ersetzen, die zur Trennung des schnell wachsenden Zahlfleischs von der langsam wachsenden Knochensubstanz verwendet werden. Aufgrund der Resorbierbarkeit von Suprathel bliebe dem Patienten dann eine weitere Operation zur Entfernung der Folie erspart, erklärt Prof. Planck, der für die „Wunderhaut“ noch viele potentielle Anwendungsfelder sieht. Mittelfristig soll das Gewebe auch als Trennfolie in der Adhäsionsprophylaxe eingesetzt werden. Im Rahmen des IZST werden unter anderem Anwendungen in der minimalinvasiven Medizin erforscht. Dabei werden solche Trennsysteme mit einem Endoskop in den Körper eingebracht, um Komplikationen durch das Verwachsen von verschiedenen Organen oder Geweben bei entsprechenden Operationen zu verhindern. Anwendungsfelder sind die Gynäkologie oder die Traumatologie, aber auch im Bereich schwer heilender Wunden denkbar. Die Membranen können zudem mit Funktionen versehen werden, wie etwa die lokale Abgabe von Wirkstoffen. „So eröffnet sich ein weites Feld für neue Behandlungssysteme, zum Wohle des Patienten, aber auch zur Kostensenkung im Gesundheitssystem“, betont Planck.
amg
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