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Volker Löschs Inszenierung Dogville am Stuttgarter Staats-theater erzählt die Selbstaufopferung einer jungen Frau als moderne Passionsgeschichte.
(Foto: Staatstheater Stuttgart)
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Das Kirchenliedprojekt von Ulrich Rasche und die mit Passionsmotiven durchsetzte Leidensgeschichte der Fremden Grace in Volker Löschs Inszenierung Dogville feierten in der vergangenen Spielzeit Publikumserfolge im Stuttgarter Staatstheater. Im August machte ein Konzert der Sängerin Madonna Schlagzeilen wegen ihrer Selbstinszenierung als ans Kreuz geschlagener Christus. Motive der christlichen Religion bestimmen die Gegenwartskunst derart, dass sie auf ihre Funktion zu befragen sind. Aus Sicht der Gender Studies richtet sich die Aufmerksamkeit sowohl auf den religiösen Kontext als auch auf die Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit, die mit diesen Inszenierungen verbunden sind.
Gender Studies sind eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Schwerpunkten findet. Ausgangspunkt ist eine Konzeption von Geschlechtsidentität (Gender), welche die Gleichsetzung von biologischem und sozialem Geschlecht auflöst. Was „weiblich“ oder „männlich“ ist, erweist sich als soziokulturelle Konstruktion, nicht als „Natur“. Werden vorgeblich normale Gegensatzpaare wie Mann und Frau oder Hetero- und Homosexualität jedoch als soziale Konstrukte begriffen, so bietet sich für das Subjekt die Möglichkeit, diese Konstruktionen anzunehmen, zu prüfen und auch zu überschreiten. Dies hat Folgen für das Subjekt, wirkt sich aber auch auf Formen der Macht und des Wissens aus. Literatur als Ort der Darstellung und Reflexion von Identität führt diese Prozesse im Experimentierraum Text vor.
Rechnet man heute zu den Identität konstituierenden Faktoren Gender, Ethnizität und gesellschaftliche Schicht, so lässt sich für vergangene Jahrhunderte als wesentlicher Faktor auch die Religionszugehörigkeit ausmachen. Religion und Glaube aber sind Themen, die in der Literatur seit jeher wesentlich sind. Dabei ist es gerade die Verknüpfung von Religion und Geschlecht, die in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Denn Glaube und institutionelle Funktion wurden bis ins 18. Jahrhundert zum Anlass des Schreibens und dienten besonders Autorinnen zur Legitimation ihrer in den Augen der (männlichen) Gesellschaft umstrittenen Tätigkeit. Unter Berufung auf ihren Glauben schrieben Frauen Autobiographien, Gedichte, Briefe, Erbauungsschriften und wenige theologische Traktate. In den Klöstern fiel ihnen zusätzlich die Aufgabe der Geschichtsschreibung zu.
Mädchenbücher neu entdeckt
Mit der geschlechtsspezifischen Aneignung literarischer Formen und der Funktionalisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit in diesen Texten beschäftigen sich die Gender Studies zum Mittelalter wie zur Frühen Neuzeit. Seit dem 18. Jahrhundert überwiegen Erzählungen und Romane, aber auch Dramen, die sich mit religiösen Themen beschäftigen. Dies sind zum einen Romane, die die Gläubigen in ihrer christlichen Lebensweise unterstützen sollen. Sie wurden oftmals vergessen oder fristeten als Mädchenbuchbearbeitungen ihr Dasein. Heute werden sie wegen ihrer kulturellen Implikationen von einer genderorientierten Literaturwissenschaft wieder berücksichtigt.
Zum anderen beschäftigten sich Autoren und Autorinnen mit religiösen Figuren und Mythen, die nun, säkularisiert, mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden. Es zeigt sich zum Beispiel, wie biblische Figuren in der Literatur des 19. Jahrhunderts von Annahmen über Rolle und Sexualität von Frau und Mann in der bürgerlichen Gesellschaft der Zeit bestimmt sind. Aber auch die Überlagerung von Aussagen über Religion, Nation und Geschlecht lässt sich an Texten aufweisen. Darüber hinaus bleibt die Frage virulent, wie Glaube in literarischen Formen geschlechtsspezifisch ausgedrückt oder hinterfragt wird. Ein Beispiel hierfür ist das Theaterstück „Der Bus (Das Zeug einer Heiligen)“, für das der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss zum Dramatiker des Jahres 2005 gewählt wurde. Das Schauspiel über das spirituelle Vakuum des alten Europas und den verzweifelten Versuch, der Leere etwas entgegenzusetzen, beschreibt eine bekehrte Erika, die sich auf ihre hindernisreiche Reise zu einem Wallfahrtsort begibt.
Bühler-Dietrich/amg
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