Am 31. März 2006 verstarb Dr. rer. nat. Arnost Kessler kurz vor seinem 85. Geburtstag. In der zweiten Hälfte seines Berufslebens war er über viele Jahre hinweg am Physikalischen Institut der Universität Stuttgart tätig.
Arnost Kessler wurde am 28. Juni 1921 in Brünn geboren, studierte an der Universität seiner Heimatstadt und promovierte dort 1952 im Fach Physik. 1955 erhielt er einen Ruf an die Slowakische Akademie der Wissenschaften in Bratislava; später wurde er dort Direktor des Physikalischen Instituts. In dieser Zeit hat er sich erfolgreich bemüht, Kontakte zum Ausland zu knüpfen, um sich – und insbesondere auch seinen Mitarbeitern – die Teilnahme an internationalen Konferenzen und den Besuch westlicher Forschungseinrichtungen zu ermöglichen. Auf diese Weise kamen auch die Kontakte zu Instituten der Fakultät Physik und der Fakultät Elektrotechnik der Universität Stuttgart zustande.
Nach dem gewaltsam unterdrückten „Prager Frühling“ ist Dr. Kessler, wie damals viele andere Wissenschaftler und Künstler seines Landes, im Jahre 1968 mit seiner Familie in den Westen geflohen.
Den Stuttgarter Professoren Heinz Pick und Richard Feldtkeller ist es gelungen, ihm eine feste Stellung am Physikalischen Institut der Universität anbieten zu können, in der er seine eigenen Forschungsideen auf dem Gebiet der Festkörperphysik realisieren konnte. Daneben war er an verantwortlicher Stelle im Physikalischen Praktikum als Lehrer und Betreuer tätig. Er hat in diesen Jahren eine beachtliche Forschungsaktivität entwickelt und als Mentor vieler Diplomanden und in Zusammenarbeit mit Doktoranden eine große Zahl wissenschaftlicher Arbeiten in internationalen Journalen veröffentlicht.
Die meisten dieser Arbeiten befassten sich mit elektrischen Transportphänomenen in heteropolaren Kristallen, also mit der thermisch stimulierten Bewegung von intrinsischen und fremden Ionen und mit der Reorientierung von elektrisch ausgerichteten ionischen Komplexdipolen in diesen Kristallen. Diese Arbeiten sind auch heute noch bedeutsam für das Verständnis der mikroskopischen Vorgänge in elektrischen Speicherzellen und damit für die Entwicklung neuer Batterie- und Akku-Materialien.
Der Lebensweg von Arnost Kessler ist kennzeichnend für das Schicksal des jüdischen Bürgertums in Böhmen und Mähren nach dem Ersten Weltkrieg. Die Menschen dieses Bevölkerungsteils, dem auch Franz Kafka und Gustav Mahler angehörten, hatten auch noch nach dem Ende der k.u.k Monarchie Deutsch als zweite Muttersprache – neben dem Tschechischen, und sie hatten bis zum Zweiten Weltkrieg eine tragende Rolle in der künstlerischen und wissenschaftlichen Kultur des Landes.
Im Zweiten Weltkrieg wurden sehr viele dieser Menschen im KZ Theresienstadt interniert – so auch der Verstorbene, seine Frau und seine Familie. Ein großer Teil von ihnen wurde später in Ausschwitz ermordet. Auch die Mutter des Verstorbenen hatte dieses Schicksal.
Die vielen von Dr. Kessler betreuten Studenten, seine Diplomanden, Mitarbeiter und Kollegen werden gern an ihn zurückdenken, sein gepflegtes k.u.k Deutsch, seine große Allgemeinbildung, seine Neigung zu lateinischen Zitaten, und vor allem an seine stets freundliche und wohlwollende Hilfsbereitschaft.
Eine große Liebe hatte Arnost Kessler zur Musik und ihrer aktiver Ausübung – zunächst im engeren Kollegenkreis –, aber bald auch unter Einbeziehung anderer Partnerinnen und Partner, die er immer wieder mit liebenswürdigem Zwang zu kammermusikalischer Aktivität überredete. Sie alle werden ihn nie vergessen.
Max Wagner
|