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„Formierung und Bewährung des europäischen Mächtekonzerts 1814 bis 1853“ lautete der Titel der internationalen Konferenz, die vom 1. bis 4. März an der Universität Stuttgart stattfand, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Einladung von Prof. Wolfram Pyta, dem Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut, waren viele namhafte Experten aus den USA, Österreich, Großbritannien und Deutschland gefolgt.
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Entgegen dem ersten Eindruck war das 19. Jahrhundert in Europa durch eine ausgesprochen lang andauernde Phase der friedlichen Kooperation zwischen den Staaten gekennzeichnet. Vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853 gab es zwischen den europäischen Großmächten keine kriegerische Auseinandersetzung. „Das ist eine bemerkenswerte Leistung“, unterstreicht Wolfram Pyta. „Nach 1815 wurde das alte Spiel der Mächte um territorialen Besitz und individuelle Macht nicht lediglich moderater und zurückhaltender gespielt, das Spiel selbst wurde anders“, erklärte Prof. Paul Schroeder von der University of Illinois. Wesen und Absicht der Regierungen änderten sich, ihr gemeinsames Ziel war nun, Friede und Stabilität sowie Sicherheit und Rechte aller Bündnis-Mitglieder zu garantieren.
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Der Wiener Friedens-Kongress symbolisierte einen diplomatischen Neuanfang in Europa nach dem Ende der Napoleonischen Kriege. Der Kupferstich von J. Zutz aus dem Jahr 1814 ist dem Buch von Klaus Günzel „Der Wiener Kongress“ (Koehler & Amelang, 1995) entnommen.
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The Transformation of European politics
Die Stuttgarter Tagung war die erste internationale Tagung in Europa zum europäischen Mächtekonzert, die die Impulse von Paul Schroeder aufgriff, dem international führenden Experten für das europäische Staatensystem im 18./19. Jahrhundert. Sein 1994 veröffentlichtes Buch „The Transformation of European politics 1763 - 1848“ gilt als ein „Meilenstein der Geschichtsschreibung der Internationalen Beziehungen“. Das passende System zur richtigen Zeit und am richtigen Ort, etwas Intelligenz und ein Quäntchen guter Wille, so könne das Spiel der internationalen Politik gespielt werden, um dauerhaft den Frieden zu unterstützen und einen Wechsel zu vollziehen, betonte Schroeder: „Die Konzertpolitik zahlt sich langfristig gesehen aus, nicht dagegen Krieg und Imperialismus.“
„Erfahrungsverwertungsgemeinschaften“
Was hat sich in den Köpfen der Menschen getan, wie hat sich ihre Vorstellungswelt gewandelt? „Erstmals“, freut sich Wolfram Pyta, „wurde bei dieser Tagung ein Erklärungsansatz aus der politikwissenschaftlichen Disziplin der ‚Internationalen Beziehungen’, der so genannte konstruktivistische Ansatz, auf die Geschichtswissenschaft übertragen. Der heuristische Ertrag dieses Zugriffs liegt darin, dass gefragt wird, von welchen Normen und Wertvorstellungen das außenpolitische Verhalten der politischen Akteure geleitet wurde. Hierbei bietet sich die Kategorie ‚Erfahrung’ als terminologischer Schlüssel an.“ Die europäischen Monarchen und Staatsmänner, die sich nach dem Sturz Napoleons I. 1814/1815 zum europäischen Mächtekonzert zusammenfanden, einte die Erfahrung der Revolution und des Krieges mit ihren Schrecken. Zwischenstaatliche Gewalt zu vermeiden und die unvermeidlich auftauchenden zwischenstaatlichen Krisen in Zukunft diplomatisch zu lösen, wurde somit zum wichtigsten Ziel dieser auf Sicherheit und Berechenbarkeit bedachten Politikergeneration. Generationen können demnach als so genannte „Erfahrungsverwertungsgemeinschaften“ angesehen werden. Je länger allerdings Ereignisse zurückliegen und je weniger politische Akteure solche grundstürzenden Erfahrungen zur Grundlage ihres Handelns machen, umso niedriger fällt schließlich der dem Frieden zugeschriebene Stellenwert aus. Auf diese Entwicklung kann auch das Ende der friedlichen Periode im Jahre 1853 zurückgeführt werden
Religion und Erfahrung
Das europäische Mächtekonzert und seine Zeit ist eines der Forschungsgebiete am Lehrstuhl von Wolfram Pyta. Er will die „Vernetzungsdichte zwischen den Großmächten, wie sie in der Vielzahl von Mächtekongressen und Botschafterkonferenzen insbesondere in der formativen Phase von 1814 bis 1848 ihren Ausdruck fand“, darstellen. Der Großmacht Russland zu dieser Zeit widmet sich Philipp Menger, der am Lehrstuhl für Neuere Geschichte promoviert. Am Beispiel von Zar Alexander I., dem europäischten Herrscher Russlands seit Peter dem Großen, geht er unter anderem der Frage nach, wie erfahrungsbildend auch die Religion sein kann. Aus den Kriegserlebnissen und schließlich dem Sieg über Napoleon erwuchs für Zar Alexander I. die Aufgabe, Europa friedlich zu gestalten. „Mit der allgemeinen Befolgung der Regeln der christlichen Nächstenliebe wollte er den Kriegsgeist aus der Politik eliminieren. Das Ordnungssystem dahinter sollte auf das bereits vorhandene Fundament – Religion und Moral – gegründet werden, die für alle christlichen Völker und Monarchen ohnehin schon verbindlich waren“, erklärt Philipp Menger. Der damalige britische Außenminister Castlereagh, während der napoleonischen Kriege „auf seiner Insel“ weder mit brutalen Kämpfen noch mit Städten in Schutt und Asche konfrontiert, traute Alexander nicht. Menger dagegen ist überzeugt davon, dass es Alexander „ernst“ war: „Es gab einige Möglichkeiten, bei denen er sich leicht machtpolitische Vorteile für Russland hätte herausschlagen können; aber er unterließ dies im Hinblick auf seine Selbstverpflichtung gegenüber den von ihm mitgestalteten Regeln des ‚concert of Europe’“.
Julia Alber
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