„Viele Menschen halten repräsentative Politik angesichts existentieller Krisen für ermüdend und dysfunktional“, sagt Prof. André Bächtiger, Leiter der Abteilung Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. „Einige Wähler*innen setzen deshalb auf einen starken Staatschef, der Ordnung in eine aus den Fugen geratene Welt bringen soll.“ Bächtiger und sein Team erforschen demokratische Alternativen, die der Misere entgegenwirken können. In einer neuen Studie im renommierten Fachjournal American Political Science Review hat er gemeinsam mit Saskia Goldberg von der KU Leuven in Belgien und Marina Lindell von der finnischen Universität Abo Akademi das Konzept der „Lottokratie“ und dessen Umsetzungschancen untersucht.
Wie im alten Athen: Politische Beteiligung per Losverfahren
Wie in der antiken athenischen Demokratie entscheidet in einer „Lottokratie“ das Los, wer sich direkt an politischen Entscheidungen beteiligen darf, zum Beispiel im Rahmen eines Rates aus Bürger*innen. „Diese handeln kompetent ohne Partei- oder Lobbyinteressen und dafür idealerweise im Sinne der Interessen der gesamten Bürgerschaft“, erläutert Bächtiger. Solche „Mini-Öffentlichkeiten“ funktionierten in der Praxis erstaunlich gut, so der Experte. Nicht nur diskutieren teilnehmende Bürger*innen auf erstaunlich hohem Niveau miteinander, sie finden oft auch Konsens in strittigen Fragen. Politikwissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Philosoph*innen diskutieren welche Befugnisse solche Räte in der politischen Praxis tatsächlich haben sollen. Sollen Bürger*innen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen? Sollen sie bindende Entscheidungen treffen dürfen oder sogar dysfunktionale Parlamente vollständig ersetzen? Oder ist es illegitim, dass eine Handvoll ausgewählter Bürger*innen für andere ohne direkte Verantwortung und wirkungsvolle Vertretungsmöglichkeiten mitbestimmt?
Lottokratien: Was denken die Bürger*innen darüber?
Bächtiger, Goldberg und Lindell wollten wissen was die Bürgerin*innen als Adressat*innen solcher Reformbestrebungen selber über lottokratische Bürger*innenräte denken. Sie fanden heraus, dass die Befragten eine solche Form der direkten Demokratie zwar generell interessant finden, aber eher zurückhaltend sind, wenn es um die Entscheidungsmacht geht. Dieses Muster beobachteten die Wissenschaftler*innen in sehr unterschiedlichen Länderkontexten - in den politisch hoch polarisierten USA, in Irland, wo die Menschen bereits viel Erfahrung mit Bürger*innenräten haben, und in Finnland, wo ein hohes politisches und soziales Vertrauen herrscht. Allerdings hatten nur 15 bis 25 Prozent der Befragten zuvor überhaupt von Bürger*innenräten gehört und nur rund vier Prozent waren daran schon einmal beteiligt. Die Studie zeigt auch: Insbesondere Bürger*innen, die bereits Erfahrungen mit direkten Demokratieformaten haben, sind einerseits offener für Mini-Öffentlichkeiten mit Entscheidungsmacht. Andererseits bleiben auch sie bei der Frage „Entscheidungsmacht oder nur Beratung“ unsicher.
Zukünftige Demokratien: Komplexe Modelle von Bürgerbeteiligung
„Dies wirft neue Fragen für die Ausgestaltung zukünftiger Demokratien auf“, sagt Bächtiger. In einem aktuellen Forschungsprojekt der Bertelsmann-Stiftung haben er und sein Team deswegen Teilnehmende des Bürger*innenrats „Forum gegen Fakes“ gefragt, wie für sie ideale demokratische Systeme aussehen sollten. Auch hier wünschen sich die Beteiligten, dass Bürger*innenräte eine wichtigere Rolle bei der Entscheidungsfindung bekommen sollen. Allerdings möchten sie, dass sie mit den bestehenden repräsentativen Institutionen verknüpft werden. „Sie wollen das Gute aus beiden Welten nutzen“, sagt Bächtiger. Denn repräsentative Institutionen fördern die Artikulation von Problemen und politisieren die Menschen. Lottokratische Institutionen wiederum verbessern die Qualität des politischen Diskurses, schaffen Vertrauen und regen die Menschen dazu an, unparteiisch zu sein und gesamtgesellschaftliche Interessen in den Blick zu nehmen.
Mehrkammersysteme: Intelligentere Entscheidungen und mehr Zufriedenheit
Ansätze, entscheidungsfähige Mini-Öffentlichkeiten und bestehende demokratische Institutionen zu kombinieren, gibt es bereits auf kommunaler Ebene, zum Beispiel in Ostbelgien oder in Paris. Dort werden lottokratische Kammern mit dem repräsentativen System verknüpft. „Die Zukunft der Demokratie besteht also nicht darin, bestehende repräsentative Systeme zu ersetzen, sondern darin, repräsentative und lottokratische Institutionen intelligent miteinander zu kombinieren“, schlussfolgert Bächtiger. „Und dies könnte nicht nur intelligentere Entscheidungen hervorbringen, sondern auch die Zufriedenheit der Bürger*innen mit der Demokratie signifikant erhöhen.“
Zur Studie
Die Studie „Empowered Minipublics for Democratic Renewal? Evidence from three conjoint Experiments in the United States, Ireland, and Finland” ist in der American Political Science Review erschienen und steht Open Access zur Verfügung. Sie basiert auf so genannten Conjoint-Experimenten. Die Methode stammt aus dem Marketing. Sie wird dort genutzt, um Produkte und ihr Design bewerten zu lassen. Im Rahmen der Studie beurteilten rund 6000 repräsentative Personen ab 18 Jahren Bürger*innenräte als hypothetisches Szenario für die zukünftige Gestaltung der Demokratie. Durchgeführt wurde die Studie 2021 und 2022 in den USA, Finnland und Irland, also drei vergleichbaren Ländern mit einer etablierten liberalen Demokratie.
Fachlicher Kontakt:
Prof. André Bächtiger, Universität Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften II, Tel.: +49 711 685 81450, E-Mail
Publikation: Empowered Minipublics for Democratic Renewal? Evidence from three conjoint Experiments in the United States, Ireland, and Finland”, DOI: 10.1017/S0003055424001163
Jutta Witte
Dr.Wissenschaftsreferentin