Toleranz wird im öffentlichen Diskurs meist als Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen dieser Welt definiert. Tatsächlich geht der Begriff jedoch auf das lateinische Wort „tolerare“ zurück, was „leiden“ beziehungsweise „aushalten“ bedeutet. Diesen Aspekt greift Dr. Nina Engelhardt am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart in ihrer Forschung auf und untersucht die Rolle der literarischen Fiktion in der Ausweitung des Toleranzbegriffs. Für ihr Projekt konnte sie eine Förderung im Rahmen des Eliteprogramms für Postdoktorandinnen und Postdoktoranden der Baden-Württemberg Stiftung einwerben.
Ihr Ziel ist es, literarische Auseinandersetzungen mit Toleranz und deren Strategien zur Sichtbarmachung des emotional, kognitiv und physisch lähmenden ‘Leidens’ in Toleranzprozessen zu untersuchen und die Rolle der Literatur in Diskursen zu Toleranz zu bestimmen. Der Fokus liegt hierbei auf der britischen Literatur des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit erfuhr das Toleranzkonzept eine entscheidende Entwicklung weg vom religiösen Kontext hin zu Fragen von Identität und deren unterschiedlichen Ausprägungen, einschließlich Ethnizität, Gender und einer generellen Offenheit gegenüber Wandel. Literarische Texte beeinflussen diese Entwicklung und werden im Gegenzug von ihr geformt.
„Erleiden“ der Unterschiedlichkeit statt Empathie
Literarische Texte bieten zentrale Einblicke in Repräsentationen und Verhandlungen von historisch und kulturell spezifischen Erfahrungen von Toleranz. Bisher hat die Rolle der Literatur in Toleranzdiskursen, gerade mit Blick auf die aktuelle Neubewertung des Konzepts, jedoch wenig Aufmerksamkeit erfahren beziehungsweise beschränkt sich auf religiöse Toleranz. Um die Diversifizierung von Toleranz im 19. Jahrhundert über den religiösen Kontext hinaus zu analysieren, entwickelt Nina Engelhardt einen kognitiven und sensoriellen Analyserahmen für literarische Texte, der von der ‘Ablehnungskomponente’ (Forst 2013) – also der vom Tolerierenden abgelehnten Überzeugung oder Praxis – unabhängig ist. Im Gegensatz zu der in der Literaturwissenschaft gängigen Gleichsetzung von Toleranz mit Sympathie oder Empathie stellt das Projekt die Spezifität der Toleranz heraus: Toleranz setzt nicht voraus, dass man die Gefühle oder die Perspektive eines Anderen teilt, sondern ist auf den Tolerierenden und dessen kognitives, emotionales und körperliches ‘Erleiden’ der Unterschiedlichkeit und Dissens fokussiert.
Um zu untersuchen, wie narrative Texte individuelle, erlebte und verkörperte Toleranzerfahrungen darstellen und damit Toleranz reflektieren, arbeitet die Wissenschaftlerin mit einem sensoriellen Ansatz und analysiert Prozesse des körperlichen und mentalen Aushandelns, das in Konfliktsituationen oft mit Angst und Verletzlichkeit einhergeht. Das kognitive, emotionale und physische Leiden, das in Situationen mangelnder Toleranz auftritt, wird oft nicht thematisiert, kann der literarischen Darstellungen jedoch Ausdruck verleihen. Um diese Zusammenhänge zu analysieren, greift Engelhardt auf Methoden der kognitiven Literaturwissenschaft zurück.
Neue Sicht auf Entwicklung des Toleranzverständnisses
Mit der Analyse der bisher kaum beachteten Verhandlung von Toleranz im viktorianischen Roman schließt dieses Projekt Forschungslücken sowohl in der Toleranzforschung als auch in der (kognitiven) Literaturwissenschaft. Es legt die ethischen und ästhetischen Strategien in Toleranzprozessen offen und untersucht, wie Texte von Toleranzdiskursen geprägt werden und diese wiederum formen. „Das Projekt zeigt so das Potential der literarischen Perspektive, die kognitive und emotionale Dimension von Toleranz kritisch zu verhandeln“, resümiert Nina Engelhardt. „Dadurch können Herausforderungen und Möglichkeiten von Toleranz aufgedeckt werden, die außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten anderer Disziplinen liegen und eine bisher vernachlässigte Sicht auf eine wesentliche Entwicklung des modernen Toleranzverständnisses entwickelt werden.“
Kontakt: Dr. Nina Engelhardt, Institut für Literaturwissenschaft / Englische Literaturen und Kulturen, Tel. +49 711 685-83096, E-Mail