Flachs begleitet uns seit Jahrtausenden in Form von Kleidungsstücken, Säcken oder robusten Schiffstauen. Jetzt erlebt die alte Kulturpflanze ihre „zweite Blüte“ und könnte zum Baustoff der Zukunft werden. Im Rahmen des EU-geförderten Interreg NWE-Projekts „Smart Circular Bridge“ wurden zwei Brücken aus dem nachwachsenden Rohstoff gebaut. Die erste „Smart Circular Bridge“ ist seit 2022 in Almere in den Niederlanden in Betrieb. Am 7. Februar 2025 wurde die zweite Brücke eingeweiht. Sie steht in Ulm und überspannt den Fluss „Kleine Blau“, der nur wenige Schritte vom Ulmer Münster entfernt fließt.
Architekturpartner: Forschungsgruppe BioMat der Universität Stuttgart
Auch Forschende der Universität Stuttgart wirkten am „Smart Circular Bridge“-Projekt mit. Der architektonische Entwurf und das Design für die beiden Brücken in Almere und Ulm stammen von Associate Professor Hanaa Dahy, Leiterin der Forschungsgruppe für Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur (BioMat) am Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart sowie Leiterin des BioMat@Copenhagen Forschungszentrum der Aalborg Universität in Dänemark. „Das Projekt Smart Circular Bridge ist ein wichtiger Meilenstein für nachhaltige Architektur in Deutschland sowie international, da es das enorme Potenzial von jährlich nachwachsenden Naturfasern auf mehreren Ebenen – technisch, strukturell und ästhetisch – unter Beweis stellt. Neue grüne Infrastruktur in den Städten der Zukunft und neue architektonische Tektonik werden geboren“, so Dahy. Dahy und das BioMat-Team der Universität Stuttgart haben als Architekturpartner den Bau der ersten „Smart Circular Bridge" in Almere und das Ulmer Brücken-Projekt begleitet.
Design und Innovation mit Flachs
„Die Inspiration für die Gestaltung der Brücke entstand aus dem Wunsch, ein Statement zur Zukunft der grünen Infrastruktur zu setzen. Die große Kurve repräsentiert ein philosophisches Konzept, das die Gegenwart mit der Zukunft verbindet. Sie ist ein Symbol für Verbindung – insbesondere zwischen der Jugend (als Zukunft) und der Vergangenheit (verkörpert durch das Ulmer Münster). Besonders inspiriert haben mich der Rhythmus und die Wiederholung der gotischen Architektur des Münsters, insbesondere die Gewölbe, die den ersten Impuls für die strukturelle Syntax der natürlichen Fasern in der Balustrade der Brücke gaben“, sagt Dahy und betont: „Bei der Gestaltung spielte die Philosophie ´Materials as a Design Tool´ eine wichtige Rolle: Wir betrachten Materialien nicht nur als passive Bauelemente, sondern als zentrale Gestaltungsmittel, die Form, Funktion und Ästhetik des Bauwerks prägen.“
Mit neun Metern Länge und fünf Metern Breite wirkt die Brücke für Passant*innen zunächst unauffällig. Doch ein genauer Blick zeigt das gestalterische Potenzial: Ein kunstvolles Geländer in geometrischen Formen, voll automatisiert gewebt von Roboterarmen. Die Seile bestehen aus Flachsfasern, die in Polyesterharz getaucht wurden – dadurch sind sie besonders stabil und wetterfest. Die Geländerpfosten bestehen aus Hartholz, recycelt aus einer abgerissenen Brücke – ein anschauliches Beispiel für nachhaltige Kreislaufwirtschaft.
Der Brückenkörper selbst erinnert an Beton, doch der Schein trügt. Er besteht aus einem hochleistungsfähigen Verbundwerkstoff aus Flachsfasern und bio-basiertem Polyesterharz und recyceltem PET-Schaum. Die Werkstoffkombination macht die Brücke besonders leicht und so stabil, dass sie sich mit Stahlkonstruktionen messen kann. Bei Belastungstests schneidet die Brücke so gut ab, dass neben Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen auch Fahrzeuge das Bauwerk überqueren können.
Wissenschaft und Kunst vereint
Beide Brücken des „Smart Circular Bridge“-Projekts werden weiterhin wissenschaftlich beobachtet: In Ulm und Almere messen Sensoren in Echtzeit unter anderem Belastung, Verformung, Temperatur und Umwelteinflüsse. Diese Daten werden mittels KI ausgewertet. So gewinnt die Forschung wichtige Erkenntnisse über Material und Konstruktion für künftige Projekte – und jede Person, die über diese Brücke geht, trägt ihren Anteil dazu bei.
Und noch etwas lässt bei der Ulmer „Smart Circular Bridge“ aufhorchen: Die Sound-Agentur KLANGERFINDER aus Stuttgart entwickelte ein interaktives Klangkunst-Konzept, das mithilfe der Sensorsignale einen spielerischen Austausch mit der Brücke ermöglicht. Menschliche Bewegungen und Einwirkungen der Umwelt werden live in Klänge und Musik übersetzt – so wird die Interaktion zwischen Mensch, Natur und Bauwerk erfahrbar.
Das Projekt „Smart Circular Bridge”
Die „Smart Circular Bridge“ in Ulm sowie die 2022 in Almere eröffnete Brücke entstanden im Rahmen des EU-geförderten Interreg NWE-Projekts „Smart Circular Bridge“. Hinter dem Projekt steht ein interdisziplinäres Konsortium aus 15 Partnern unter Führung der Technischen Universität Eindhoven. Das Projekt erforscht das Potenzial nachwachsender Rohstoffe als Baumaterial in tragenden Strukturen, denn die Baubranche trägt derzeit einen erheblichen Teil zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Die Entwicklung neuer, leistungsfähiger Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen soll die bio-basierte Kreislaufwirtschaft fördern und perspektivisch die CO2-Emissionen verringern.
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![Dieses Bild zeigt Lena Jauernig](https://www.uni-stuttgart.de/universitaet/organisation/img-personal/jauernig-lena.jpg?__scale=w:150,h:150,cx:0,cy:0,cw:790,ch:790)
Lena Jauernig
Redakteurin Wissenschaftskommunikation / Wissenschaftlicher Nachwuchs