Der japanische Physiker Prof. Kazushi Kanoda wurde mit dem renommierten Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet. Seit März forscht er gemeinsam mit Arbeitsgruppen der Universität Stuttgart und des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung an einem neuen grundlegenden Zustand der Materie: den Quanten-Spin-Flüssigkeiten.
„Deutschland und Japan sind bei diesem Thema wichtige Forschungsstandorte – und hier in Stuttgart sind die beiden Arbeitsgruppen, mit denen ich nun zusammenarbeite, auch noch in enger räumlicher Nähe zueinander angesiedelt“, erklärt Kanoda seine Wahl. Im Rahmen des gemeinsamen wissenschaftlichen Projekts will er mit Forschenden des 1. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart und des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung (MPI-FKF) eine besondere Art von Materialien untersuchen. Der offizielle Titel des Projekts lautet „Frustrationsgetriebene Quantenphasenübergänge“. Im Rahmen des Humboldt-Forschungspreises ist die Zusammenarbeit zunächst auf ein Jahr angelegt.
Sehr spezielle Form von Materie
Quanten-Spin-Flüssigkeiten sind eine sehr spezielle Form von Materie. Sie beruhen auf dem kollektiven Verhalten ihrer Elektronen, genauer: ihrer Elektronenspins. Jedes Elektron ist ein kleiner Magnet, dessen Orientierung durch den Begriff „Spin“ beschreibbar ist. In einem gewöhnlichen Festkörper richten sich die interagierenden Elektronenspins bei sehr tiefen Temperaturen exakt zueinander aus. Sie sind geordnet. Bei Quanten-Spin-Flüssigkeiten ist das anders. Sinkt die Temperatur immer weiter ab, bleiben deren Elektronenspins ungeordnet. Diese Unordnung ist der Grund, warum solche Materialien als „Flüssigkeiten“ bezeichnet werden, obwohl sie fest sind: In Flüssigkeiten sind die Moleküle ungeordneter als in Festkörpern – und in Quanten-Spin-Flüssigkeiten sind bei tiefen Temperaturen die Spins ungeordneter als in gewöhnlichen Festkörpern.
Weltweit führender Wissenschaftler
„Ein solcher Zustand der Materie ist vor fünf Jahrzehnten vorhergesagt worden, aber der endgültige Nachweis steht noch aus“, erläutert Kanoda. „Diesen Nachweis wollen wir im Rahmen unserer Zusammenarbeit für bestimmte organische Materialien erbringen.“ Kanoda bringt in die gemeinsamen Forschungsaktivitäten sein Wissen über die Physik stark wechselwirkender Elektronen in organischen Festkörpern ein. Dressels Arbeitsgruppe ist auf die optische Untersuchung solcher organischen Materialien spezialisiert. Komplettiert wird das Trio durch Professor Hidenori Takagis Abteilung „Quantenmaterialien“ am MPI-FKF, die mit anorganischen Materialien am selben Thema wie Kanoda arbeitet. „Für die Stuttgarter Gruppen ist es eine einmalige Gelegenheit, dass Kazushi Kanoda hier an molekularen Quantenmaterialien forscht“, sagt Prof. Martin Dressel, Leiter des 1. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart. „Er ist der weltweit führende Wissenschaftler in diesem Bereich, was seine Anwesenheit für Studierende, Kolleginnen und Kollegen enorm inspirierend macht.“
Fundamentale Fragen der Physik verstehen
Bei Quanten-Spin-Flüssigkeiten handelt es sich um Grundlagenforschung, deren späteres Anwendungspotenzial noch nicht abzusehen ist. „Möglicherweise“, so Kanoda, „ergeben sich aus einem tieferen Verständnis dieser sehr fundamentalen physikalischen Fragen jedoch Erkenntnisse, die sich zum Beispiel für Quantencomputer nutzen lassen.“ Schon heute gibt es Quantencomputer, die zum Rechnen Spins verwenden. Ihre technologische Basis hat zwar nichts mit Quanten-Spin-Flüssigkeiten zu tun, doch womöglich bereiten diese den Weg für einen neuen Ansatz, wie Quantencomputer künftig mit Spins rechnen können.
Über Prof. Kazushi Kanoda
Kazushi Kanoda (66) promovierte 1987 in Physik an der Universität Kyoto, Japan. Er arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gakushuin University, Japan, und ab 1991 als Associate Professor am Institute for Molecular Science, Japan. Seit 1999 ist er Professor am Fachbereich für angewandte Physik der Universität Tokio. Kanoda erhielt für seine Beiträge zur physikalischen Forschung 1998 den IBM Japan Prize, 2006 den JPS Award for Academic Papers on Physics, 2019 die MEXT Commendation for Science and Technology und 2020 den Nishina Memorial Prize.
Über den Humboldt-Forschungspreis
Die Alexander von Humboldt-Stiftung vergibt jährlich bis zu 100 Humboldt-Forschungspreise an international renommierte Wissenschaftler*innen aus dem Ausland und erkennt damit ihr wissenschaftliches Gesamtwerk an. Zudem werden die Preisträgerinnen und -träger eingeladen, ein selbst gewähltes Forschungsprojekt in Deutschland in enger Zusammenarbeit mit lokalen Forschenden durchzuführen. Die Projektdauer kann sechs bis zwölf Monate betragen. Vorgeschlagen werden können Personen, die mit ihren grundlegenden Entdeckungen, neuen Theorien oder Erkenntnissen das eigene Fachgebiet und darüber hinaus maßgeblich beeinflusst haben und von denen auch in Zukunft wissenschaftliche Spitzenleistungen zu erwarten sind.
Fachlicher Kontakt:
Prof. Kazushi Kanoda, Universität Stuttgart, 1. Physikalisches Institut, Tel.: +49 711 685 64497, E-Mail
Prof. Martin Dressel, Universität Stuttgart, 1. Physikalisches Institut, Tel.: +49 711 685 64946, E-Mail
Kontakt
Jutta Witte
Dr.Wissenschaftsreferentin