Der große Saal des Stuttgarter Rathauses war bis zum letzten Platz besetzt. „Über 500 Menschen vor Ort und rund 900 Zuhörer*innen im Livestream wollten hören, was Liao Yiwu in Chinas Gefängnissen erlebt hat und welche Zukunftsszenarien er für das Land sieht“, sagt Dr. Elke Uhl, Geschäftsführerin des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart.
Der Dichter Yiwu ist für sein regimekritisches literarisches Werk international bekannt. Erzählend übt er Kritik an der chinesischen Regierung und Gesellschaft. Mit der zweiten Stuttgarter Zukunftsrede „Unsichtbare Kriegsführung. Wie ein Buch ein Imperium bezwingt“ ist dem Partnerverbund, bestehend aus dem IZKT, dem Literaturhaus Stuttgart und dem Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof Stuttgart ein fulminanter Anschluss an Daniel Kehlmanns erste Stuttgarter Zukunftsrede vor zwei Jahren gelungen. Während Kehlmann 2021 die schriftstellerischen Fähigkeiten künstlicher Intelligenz auslotete, berichtet der Menschenrechtsaktivist nun über digitale Überwachungstechnologien, die durch sogenannte „Gesundheits-Apps“ im Zuge der Pandemie in China drastisch ausgeweitet wurden.
Im Gefängnis wegen eines Gedichts
Durch seine persönlichen Erlebnisse kann Yiwu einzigartige Einblicke in die politische und gesellschaftliche Situation Chinas geben. Nach der Veröffentlichung des Gedichts „Massaker“ im Jahr 1989, in dem es um die Niederschlagung der Proteste am Platz des Himmlischen Friedens ging, wurde Yiwu für vier Jahre inhaftiert. Er schildert dem gebannten Publikum die in den Gefängnissen erlebte Gewalt, Zusammenbrüche und Suizidversuche. Seine Erlebnisse bilden den Rahmen dessen, was ihm heute wichtig erscheint: seine heimlich im Gefängnis verfassten Schriften. Versteckt in Buchrücken schaffte er diese erst aus dem Gefängnis und 16 Jahre später außer Landes. Sie bilden die Grundlage des 2012 erschienen Zeitberichts „Für ein Lied und hundert Lieder“, für den der Autor den Geschwister-Scholl-Preis erhielt und der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
Flucht nach Deutschland
Nach seiner Haftentlassung blickt er einer ungewissen Zukunft entgegen, denn jetzt ist das Schreiben noch gefährlicher als während der Inhaftierung. Nach etlichen Hausdurchsuchungen und der Beschlagnahmung seiner Manuskripte, entschließt er sich zur Flucht, seine Ausreiseversuche scheiterten jedoch. Kontakte in die westliche Welt und nach Deutschland, wie etwa zu Herta Müller, Wolf Biermann und dem S. Fischer Verlag, bewogen ihn zur Flucht nach Deutschland. Die Flucht gelang schließlich 2011. Inzwischen lebt Liao Yiwu mit Frau und Kind in Berlin.
Auf der Suche nach Wahrheit
Selbstkritisch reflektiert der Schriftsteller, was ein Buch auszurichten imstande ist. Kann ein Buch etwas verändern? Dass Yiwu an diesem Abend in Stuttgart steht, ist der lebende Beweis dafür. Die Rede selbst, die im März dieses Jahres im Klett-Cotta Verlag erscheint, will ihren Teil dazu beitragen, das chinesische Regime zu bezwingen.
„Die Suche nach Wahrheit kann nicht ausgemerzt werden“, so Yiwu. Von der chinesischen Regierung vertuschte Vorgänge aufzudecken, wie die, welche zur weltweiten Corona-Pandemie führten, ist sein Beitrag gegen ein menschenverachtendes Regime.
Von einer Null-Covid zu einer Null-Vorsicht-Politik
Mehrmals betont er in seiner Rede, er erwarte, dass China den Protesten der Bevölkerung gegen die Zero-Covid-Politik mit Panzern entgegentreten würde. Die Aussetzung der Null-Covid-Politik habe nun zu überforderten Krematorien geführt, die per Losverfahren Einäscherungstermine vergeben, und verzweifelten Angehörigen, die ihre Toten im Freien verbrennen. Das sind Umstände, die zeigen: die Bevölkerung ohne Medikamente und Impfstoffe einfach dem Virus zu übergeben, ist um ein Vielfaches grausamer. In Anspielung auf Orwell nennt Yiwu das Virus „Covid 1984“. Es ist, so Yiwu, ein Mittel der unsichtbaren Kriegsführung.
Der Chronist schließt seine Rede mit den Worten, dass all die Tyrannen, ob sie nun Stalin, Putin, Hitler oder Xi Jinping hießen, nicht gewinnen würden, denn die Toten würden nicht vergessen werden.
Chinas Zukunft
Im anschließenden Gespräch mit Volker Stanzel, dem ehemaligen deutschen Botschafter in Peking, beschreibt der Schriftsteller seine Vorstellung von der Zukunft Chinas. Dass das Land auseinanderbrechen wird, steht für ihn dabei außer Frage. Denn, „wenn es weiterwächst, sind alle Lebewesen dieser Welt bedroht“. Und weiter: „Es wäre ideal, wenn China in kleine Länder auseinanderbrechen würde“, bekundet Yiwu.
Podiumsdiskussion digitale Überwachung
Zukunftsszenarien der digitalen Überwachung für Deutschland und Europa standen auch am Folgeabend im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion. Stefan Brink, ehemaliger Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit in Baden-Württemberg, Katika Kühnreich, Politologin und Sinologin, sowie Michael Resch, Leiter des Hochleistungsrechenzentrums (HLRS), waren als Gäste geladen. Zu den Erkenntnissen des Abends gehört unter anderem: ein bequemes Konsumverhalten führe dazu, dass die Menschen die Gefahren digitaler Überwachung unterschätzten. Zudem dürften manche Entscheidungen, wie etwa ein Gerichtsurteil, nicht von Technologien, sondern ausschließlich von menschlicher Urteilskraft gefällt werden. Betont wurde außerdem die Wichtigkeit einer handfesten Datenschutzgrundverordnung.
Über die Stuttgarter Zukunftsrede
Die Stuttgarter Zukunftsrede stehe für Sprachgewalt, den Kampf mit intellektuellen Mitteln und der Suche nach Wahrheit, sagt Uhl. Alle zwei Jahre lädt die Stuttgarter Zukunftsrede dazu ein, gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Literatur, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur über Zukunftsthemen nachzudenken. Nach vorne, in die Zukunft denken, Entwürfe für die Gesellschaft aufzeigen – das sind die Ziele der Stuttgarter Zukunftsrede.