Flüssigkeiten, die Ionen oder polare Moleküle enthalten, werden für viele grüne Technologien wie Energiespeicherung, Elektrochemie oder Katalyse benötigt. Werden solche Flüssigkeiten an eine Grenzfläche wie beispielsweise eine Elektrode gebracht oder gar in einem porösen Material eingeschlossen, zeigen sie ein unerwartetes Verhalten, das über die bereits bekannten Effekte hinausgeht. Jüngste Experimente haben gezeigt, dass die Eigenschaften des verwendeten Materials, das isolierend oder metallisch sein kann, das thermodynamische und dynamische Verhalten dieser Flüssigkeiten stark beeinflusst.
Um diese Effekte näher zu beleuchten, haben Physiker der Universität Stuttgart, der Université Grenoble Alpes und der Sorbonne Université Paris eine neuartige Computersimulationsstrategie entwickelt, die eine virtuelle Flüssigkeit verwendet. Diese ermöglicht es, die elektrostatischen Wechselwirkungen mit jedem beliebigen Material zu berücksichtigen und ist gleichzeitig rechnerisch hinreichend effizient, um die Eigenschaften von Flüssigkeiten an solchen Grenzflächen zu untersuchen. Dank der neuen Methode konnten die Forschenden nun erstmals den Benetzungsübergang auf der Nanoebene untersuchen. Dieser hängt davon ab, ob die ionische Flüssigkeit auf ein Material trifft, das isolierende oder metallische Eigenschaften besitzt. Dieser bahnbrechende Ansatz bietet einen neuen theoretischen Rahmen zur Vorhersage des ungewöhnlichen Verhaltens geladener Flüssigkeiten, insbesondere in Kontakt mit nanoporösen metallischen Strukturen, und hat direkte Anwendungen in den Bereichen Energie und Umwelt.
Trotz ihrer Schlüsselrolle in Physik, Chemie und Biologie bleibt das Verhalten ionischer oder dipolarer Flüssigkeiten in der Nähe von Oberflächen – wie beispielsweise einem porösen Material – in vielerlei Hinsicht rätselhaft. Eine der größten Herausforderungen bei der theoretischen Beschreibung solcher Systeme ist die Komplexität der elektrostatischen Wechselwirkungen. So erzeugt ein Ion in einem perfekten Metall eine umgekehrte Spiegelladung, welche dem negativen Spiegelbild entspricht. Im Gegensatz dazu werden in einem perfekten Isolator keine solchen Bildladungen induziert, da es keine frei beweglichen Elektronen gibt. Jedes reale Material besitzt aber Eigenschaften, die genau zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass die metallische oder isolierende Beschaffenheit des Materials großen Einfluss auf die Eigenschaften des angrenzenden Fluids hat.
Die etablierten theoretischen Herangehensweisen kommen hier jedoch an ihre Grenzen, da sie entweder von perfekten metallischen oder perfekt isolierenden Materialien ausgehen. Bis heute klafft eine Lücke in der Beschreibung, wenn es darum geht, die beobachteten Oberflächeneigenschaften realer Materialien zu erklären, in denen die Spiegelladungen, vergleichbar dem Licht von Scheinwerfern, hinreichend „ausgeschmiert“ sind.
In ihrer kürzlich in Nature Materials erschienenen Arbeit stellen Dr. Alexander Schlaich, Leiter einer Nachwuchsgruppe im Exzellenzcluster Simtech an der Universität Stuttgart und andere Forschende eine neue Simulationsmethode auf atomarer Skala vor, die es ermöglicht, die Anlagerung einer Flüssigkeit an einer Oberfläche zu beschreiben und dabei die Elektronenverteilung im metallischen Material explizit zu berücksichtigen. Die von ihnen entwickelte Methode ahmt die Effekte der elektrostatischen Abschirmung nach, die von jedem Material zwischen den beiden Extremen metallisch und isolierend verursacht werden. Der wesentliche Punkt dieses Ansatzes ist die Beschreibung der so genannten coulombschen Wechselwirkungen im metallischen Material durch eine "virtuelle" Flüssigkeit, die aus leichten und schnellen geladenen Teilchen besteht. Diese erzeugen eine elektrostatische Abschirmung, indem sie sich in Gegenwart der Flüssigkeit umorganisieren. Diese Strategie ist besonders einfach in jeder gängigen atomistischen Simulationsumgebung zu implementieren und kann leicht übertragen werden. Insbesondere ermöglicht dieser Ansatz die Berechnung des kapazitiven Verhaltens von realistischen Systemen, wie sie in Energiespeicheranwendungen verwendet werden.
Im Rahmen des Exzellenzclusters Daten-integrierte Simulationswissenschaft (SimTech) an der Universität Stuttgart setzt Alexander Schlaich solche Simulationen von porösen, leitfähigen Elektrodenmaterialien ein, um die Effizienz der nächsten Generation von Superkondensatoren zu optimieren, die eine enorme Leistungsdichte speichern können. Das Benetzungsverhalten von wässrigen Salzlösungen in realistischen porösen Materialien steht auch im Mittelpunkt seines Beitrags zum Stuttgarter Sonderforschungsbereich 1313 „Grenzflächengetriebene Mehrfeldprozesse in porösen Medien – Strömung, Transport und Deformation“, in dem auch Ausfällungs- und Verdunstungsprozesse im Zusammenhang mit der Bodenversalzung untersucht werden.
Originalpublikation:
Electronic screening using a virtual Thomas–Fermi fluid for predicting wetting and phase transitions of ionic liquids at metal surfaces, Alexander Schlaich, Dongliang Jin, Lydéric Bocquet, Benoit Coasne. Nature Materials (published online 11.11.2021). DOI: 10.1038/s41563-021-01121-0
Kontakt | Dr. Alexander Schlaich, Universität Stuttgart, Institut für Computerphysik (ICP) und Exzellenzcluster Simtech Tel +49 711 685 -60123 (SimTech) bzw. -63607 (ICP) E-Mail |
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