Computergestützte (in silico) Modelle können in der Medizin dazu beitragen, Krankheiten genauer zu diagnostizieren und individueller zu behandeln. Dieses Potential wird jedoch noch wenig genutzt, weil Zellen oder Gewebe wie Muskeln oder Organe bisher überwiegend isoliert betrachtet werden. Ein neues, aus der Universität Stuttgart heraus mitinitiiertes DFG-Schwerpunktprogramm will die Modelle nun koppeln, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Strukturen und Skalen sowie deren Funktionen besser verstehen und vorhersagen zu können.
Um zum Beispiel zu verstehen, wie im Zusammenspiel von Bizeps und Trizeps eine heterogene Verteilung von Kräfte entsteht und wirkt, sind kontinuumsmechanische Strukturmodelle erforderlich. Will man die biophysikalischen Zusammenhänge allerdings wirklichkeitsnah abbilden, müssen diese um chemo-elektro-mechanische Skelettmuskelmodelle erweitert werden. Durch diese Koppelung entstehen mehrskalige neuromechanische funktionale Modelle. Diese sind bisher jedoch stark vereinfacht und lassen beispielsweise Feedbackmechanismen des Skelettmuskelsystems außen vor.
Ähnliche Probleme gibt es bei der Modellierung von Stoffwechselprozessen in der Leber, wo Modelle der chemischen, biologischen und fluiddynamischen Effekte auf verschiedenen Zeit- und Größenskalen gekoppelt werden müssen, oder bei Modellen zum Verständnis der komplexen Abläufe im Gehirn. Um solche Zusammenhänge zu verstehen, sind ein systematischer Ansatz sowie innovative, gekoppelte Computermodelle erforderlich, die alle Skalen der biologischen Systeme, vom Molekül bis zum kompletten Organsystem oder Organismus, integrieren. Dies erfordert Kompetenzen aus den Bereichen Medizin, Ingenieurwissenschaften, Numerischer Mathematik und Informatik.
Interdisziplinärer Ansatz
Vor diesem Hintergrund schafft das DFG-Schwerpunktprogramm (SPP) mit dem Titel „Robuste Kopplung kontinuumsbiomechanischer in silico-Modelle für aktive biologische Systeme als Vorstufe klinischer Applikationen“ einen interdisziplinären Verbund, der sich auf die Erforschung neuer methodischer Ansätze zur Kopplung mehrerer computergestützer Modelle fokussiert und deren physiologische Funktionen in dreidimensionaler Betrachtung berücksichtigt. Initiiert wurde das SPP durch die Professoren Oliver Röhrle (Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme) und Tim Ricken (Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen) der Universität Stuttgart, die es auch koordinieren. Mit beteiligt sind Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Rostock (Rainer Bader), der Universität Erlangen-Nürnberg (Silvia Budday) sowie der Universität zu Köln (Axel Klawonn).
Ihr Ziel ist es, die vorhandenen methodischen Grundlagen als Schlüsselqualifikationen weiterzuentwickeln und damit die Entwicklung robuster biomechanischer Modelle zu ermöglichen. Das Projekt reicht zwar nicht bis in die Phase klinischer Studien, will aber eine Plattform schaffen für die Qualifizierung biomechanischer Simulationsmodelle für den späteren Einsatz in der klinischen Praxis.
Fachlicher Kontakt:
Prof. Oliver Röhrle, Universität Stuttgart, Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme, Abteilung für Kontinuumsbiomechanik und Mechanobiologie Tel.: +49 711 685-66284 E-Mail