Der universitäre Arbeitskreis Bildung und soziale Ungleichheit hat am 20. Februar 2024 zu einem mehrstündigen Workshop eingeladen, um über israelbezogenen Antisemitismus zu sprechen und gemeinsam über Strategien nachzudenken, wie Antisemitismus im universitären Kontext etwas entgegengesetzt werden kann. Hintergrund war das Pogrom vom 7. Oktober 2023, bei dem über 1200 Israelis von der Hamas ermordet wurden, aber auch die unmissverständlichen Solidaritätsbekundungen mit den Tätern an deutschen Universitäten, wo Terror-Sympathisant*innen in manchen Einrichtungen Hörsäle besetzten, in Sprechchören Israels Existenzrecht leugneten und jüdische Kommiliton*innen direkt attackiert wurden.
Die Gruppe der über 30 Teilnehmenden war heterogen: Studierende, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Professor*innen sowie Beschäftigte aus der Verwaltung und der Beratung waren zugegen, was zeigte, dass das Thema die gesamte Universität angeht und beschäftigt.
Diskussion über die aktuelle Lage an Universitäten in Baden-Württemberg
Zu Beginn des Workshops berichtete die Vertreterin der Jüdischen Studierenden Union Württemberg (JSUW) sehr bewegend davon, dass das Pogrom vom 7. Oktober auch für Jüdinnen und Juden in Deutschland eine historische Zäsur gewesen sei. Sie gab persönliche Einblicke in die zunehmend schwierige Situation von jüdischen Studierenden an baden-württembergischen Universitäten und Hochschulen und beschrieb die sich verschärfende Bedrohungslage. Dies war für alle Teilnehmenden unmittelbar erfahrbar, denn der Workshop fand unter Polizeischutz statt.
Im Anschluss wollten viele Teilnehmenden wissen, was sie konkret tun können, um die Jüdinnen und Juden der Universität zu unterstützen und zu schützen. Im Gespräch betonte die JSUW, wie wichtig es sei, dass sich die jeweilige Universitätsleitung deutlich positioniere und konsequent gegen antisemitische Vorkommnisse vorgehe. Aber jede*r Einzelne könne zur Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland beitragen, indem antisemitische Äußerungen nicht unwidersprochen bleiben und antisemitische Vorkommnisse gemeldet werden.
Universität geht gegen Diskriminierung vor
Ein Personalrat der Universität Stuttgart klärte darüber auf, wie und wo diskriminierende Handlungen und Äußerungen an der Universität Stuttgart gemeldet werden können. Die Universität Stuttgart verfüge über ein sehr gutes und differenziertes Meldesystem, um Fälle von Diskriminierung zur Anzeige zur bringen. Er betonte, dass es zu den Aufgaben des Personalrats gehöre, die Beschäftigten der Universität auch vor antisemitischen Angriffen am Arbeitsplatz zu schützen.
Arbeitskreis diskutiert Formen von Antisemitismus
Der Arbeitskreis stellte den Antisemitismus in seinen vielfältigen, oft widersprüchlichen Erscheinungsformen dar. So sei er auch in linken politischen Traditionen sowie in „woken“ intellektuellen, künstlerischen und akademischen Diskursen vertreten, obwohl doch deren Anspruch auf Emanzipation und auf Überwindung sämtlicher Formen von Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen dem Antisemitismus im Grunde widerspreche. Im Zentrum der Ausführungen stand die derzeit dominierende Variante, der israelbezogene Antisemitismus, bei der der Staat Israel im Vergleich zu allen anderen Staaten dämonisiert, delegitimiert sowie mit anderen Kriterien beurteilt werde , somit als der „Jude unter den Staaten“ (Léon Poliakov) oder auch als der „kollektive Gesamtjude“ erscheine. Auch wenn rhetorisch der Staat Israel beziehungsweise die israelische Politik im Vordergrund stehe, offenbarten das Pogrom vom 7. Oktober, aber auch die Angriffe auf jüdisches Leben weltweit, dass das wirkliche Hassobjekt Jüdinnen und Juden seien. Somit reihe sich der Hass auf Israel in andere bestehende Erscheinungsformen des Antisemitismus ein, insbesondere in die Tradition eines mörderischen Judenhasses.
Der Arbeitskreis hob deutlich hervor, dass die Auseinandersetzung mit israelbezogenen Antisemitismus es selbstverständlich nicht ausschließe, dass man insbesondere im derzeitigen Krieg um die toten, unschuldigen Menschen auf beiden Seiten gleichermaßen trauern und den Hinterbliebenen Mitgefühl entgegenbringen könne. Dies schließe sowohl Israelis als auch Menschen im Gazastreifen ein, die durch Israels Militäreinsatz getötet wurden und immer noch werden. Unter keinen Umständen dürften hinsichtlich Anti-Diskriminierung falsche Antagonismen aufgebaut werden. Antirassismus und Anti-Antisemitismus schlössen einander nicht aus und müssten immer zusammen gedacht werden, lautet das Ergebnis der Diskussion.
Ein Studierender betonte, wie wichtig es sei, dass in der Lehre auf das massive Problem des Antisemitismus hingewiesen werde. Ihm selber sei das erst auf diesem Wege wirklich klargeworden und so habe er den Weg in den Workshop gefunden. Andere Studierende thematisierten die Rolle von Lehrkräften und stellten damit den Bezug zu den Lehramtsstudiengängen her. Aus dem Kreis der Professorenschaft wurde davor gewarnt, Antisemitismus lediglich unter dem Aspekt zu betrachten, dass viele Menschen sehr geschichtsvergessen seien oder sich lediglich über soziale Medien informierten. Besonders an Universitäten zeige sich, dass antisemitische Akteure sehr gebildet sein können und zum Teil sehr bewusst in die Universitäten hineinwirkten. Es sei wichtig, hier frühzeitig und bedacht Gegenstrategien zu entwickeln.
Da viele Fragen offenbleiben mussten, wurde von den Teilnehmenden vielfach der Wunsch nach einem Folge-Workshop geäußert, den die Organisatoren voraussichtlich im Sommersemester 2024 anbieten werden.
Kontakt | Arbeitskreis Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Stuttgart Fabian Dirscherl, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Studiengangsmanager und Fachstudienberater |
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