Gleich zwei Wissenschaftler der Universität Stuttgart wurden in der aktuellen Ausschreibungsrunde des Europäischen Forschungsrats (ERC) mit je einem der renommierten ERC Advanced Grants ausgezeichnet und erhalten für ihre Projekte Fördermittel in Höhe von jeweils bis zu knapp 3,5 Millionen Euro: Prof. André Bächtiger, der als erster Sozialwissenschaftler an der Universität Stuttgart einen ERC-Grant einwerben konnte, fragt mit seinem Projekt „DDME“ nach der Zukunft der Demokratie im 21. Jahrhundert und schielt dabei auch auf den Mars. Prof. Oliver Röhrle möchte in seinem Projekt „qMOTION“ mit Hilfe der Quantentechnologien die neuromuskuläre Ansteuerung während einer Bewegung entschlüsseln und darf bereits den zweiten ERC-Grant sowie einen ERC Proof-of-Concept Grant für sich verbuchen.
Prof. Wolfram Ressel, der Rektor der Universität Stuttgart, kommentiert: „Dass mit den ERC Advanced Grants an Prof. André Bächtiger und Prof. Oliver Röhrle sowie dem ERC Starting Grant an den Perowskit-Forscher Prof. Michael Saliba im Januar 2022 in den ersten Monaten diesen Jahres bereits drei wichtige Auszeichnungen des Europäischen Forschungsrats an die Universität Stuttgart gingen, freut uns sehr und ich gratuliere den Wissenschaftlern sehr herzlich. Die Grants untermauern die Stärke der Universität Stuttgart in der Grundlagenforschung über alle Disziplinen hinweg und damit die Position der Universität Stuttgart als weltweit anerkannte Forschungsuniversität. Zugleich bestätigen die Grants die strukturbildenden Entwicklungen der letzten Jahre in den Profilbereichen Quantentechnologien, Simulationswissenschaft, Biomedizinische Systeme sowie in den Sozialwissenschaften.“
Projekt DDME - Designing Democracy on ´Mars´ and ´Earth´: Exploring Citizens´ Democratic Preferences in a Deliberative and Co-Creative Design - Prof. André Bächtiger
Mit seinem ERC Advanced Grant „Designing Democracy on Mars and Earth (DDME)“ fragt Prof. André Bächtiger nach der Zukunft der Demokratie, ihrer Werte und insbesondere ihrer institutionellen Architekturen. Dabei setzt er auf ein experimentelles, ko-kreatives und dialogisches Design: Repräsentativ ausgewählte Bürger*innen aus Deutschland, den USA und Indien diskutieren in einer Mars- und einer Erde-Gruppe online mit Demokratie-Expert*innen über demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder auch Effizienz sowie die wünschbare Ausgestaltung demokratischer Institutionen. Der Clou dabei: Die „Mars“-Gruppe wird die Aufgabe haben, Demokratie auf dem roten Planeten zu designen; die „Erde“-Gruppe dagegen wird das Gleiche im Kontext des eigenen Landes tun.
„Wir erwarten von der Herangehensweise in DDME, dass die beteiligten Bürger*innen kreative Designkonzeptionen vorlegen, ohne sich auf ein einziges institutionelles Design wie repräsentative oder direkte Demokratie festzulegen“, erwartet Prof. André Bächtiger, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. „Darüber hinaus gehen wir davon aus, dass die ‚Mars‘-Gruppen in den drei Ländern radikalere Vorschläge für die Zukunft der Demokratie machen als die ‚Erde‘-Gruppen.“
Beide Sichtweisen - die von Systemzwängen losgelöste auf dem Mars wie auch die im Rahmen des bestehenden Systems auf der Erde - seien gleichermaßen wichtig für die Diskussion über die zukünftige Gestaltung von Demokratie-Architekturen, so Bächtiger weiter. „Gerade auch für politische Entscheidungsträger*innen ist es entscheidend, zu wissen, was sich Bürger*innen in ihren Ländern von Demokratie im 21. Jahrhundert wünschen.“ Denn die Forschung zeigt, dass die künftige Ausgestaltung der Demokratie nur noch „bottom up“ (von unten nach oben) und im engen Austausch mit den Bürger*innen erfolgreich realisiert werden kann. Dies zeigen auch aktuelle Beispiele für die direkte Beteiligung der Bürger*innen an Verfassungsprojekten wie die Conference on the Future of Europe (CoFoE) oder die Verfassungsversammlung in Chile. Das Ziel von DDME ist es, solche Prozeduren zu systematisieren und gleichzeitig fundiertes Wissen über demokratische Architekturen und demokratische Werte bereitzustellen.
Projekt qMOTION - Simulation-enhanced Highdensity Magneto-myographic Quantum Sensor Systems for Decoding Neuromuscular Control During - Prof. Oliver Röhrle
Muskeln bringen Lebewesen nicht nur in Bewegung, sie können auch als Schnittstelle zwischen dem Gehirn und der Umwelt dienen. Als solche bieten sie einen Blick in das Gehirn, um zum Beispiel die Ansteuerung von Muskeln zu untersuchen. Könnte man diese neuromuskulären Signale entschlüsseln, würde dies in der Medizin völlig neue Chancen in Diagnose und Behandlung eröffnen, sowie neue Methoden für Training und Rehabilitation ermöglichen. Dies erfordert jedoch gänzlich neue Ansätze.
„Wir brauchen zum Beispiel Technologien, die gleichzeitig Informationen über die Rekrutierungsmuster und den Funktionszustand des Muskels erfassen“, erklärt Prof. Oliver Röhrle, Direktor am Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme sowie Forschungsleiter im Exzellenzcluster Daten-integrierte Simulationswissenschaft (SimTech) der Universität Stuttgart. „Genau dies ist auch die Vision von qMOTION, die darin besteht, die neuronale Aktivierung von Skelettmuskeln mithilfe von Quantensensoren und datengesteuerten Simulationsansätzen präzise und nichtinvasiv zu entschlüsseln.“
Bisher untersucht man das menschliche neuromuskuläre System, indem man das elektrische Potenzial des Muskels misst und verarbeitet. Dies hat jedoch den Nachteil, dass aufgrund der elektrischen Eigenschaften des Körpers das Signal „verzerrt“ und es schwierig ist, die bis zu 1000 Quellen solcher Potentiale zu identifizieren und voneinander zu trennen. Magnetische Felder dagegen durchdringen biologisches Gewebe ohne Formänderungen. Für die Messung des Magnetfelds sind jedoch hochempfindliche Magnetometer erforderlich. Diese stehen mit den neuen Quantensensortechnologien erstmals zur Verfügung. „qMOTION ebnet den Weg für ein völlig neues Forschungsfeld“, ist Röhrle optimistisch.
In qMOTION werden die Forschenden kommerziell erhältliche Magnetometer verwenden. Erste Studien zeigen, dass die Untersuchung des Magnetfelds eine vielversprechende Option ist, insbesondere, wenn ein so genanntes High Density-magnetomyographisches (HD-MMG) Messsystem existiert, also ein Messsystem, das aus einer gitterähnlichen Anordnung von bis zu 100 Sensoren besteht. (vgl. Abbildungen c und d)
Der Fokus von qMOTION ist der Aufbau eines HD-MMG Messsystems für die Entschlüsselung der neuromuskulären Aktivität während der Bewegung. Letzteres ist nur möglich, da HD-MMG-Daten auch geeignet sind um neuartige funktionelle Bildgebungsmethoden zu entwickeln. Röhrles interdisziplinärer Werdegang mit seinen Forschungsgebieten in der Angewandten Mathematik und in der Biomechanik ist für das Projekt eine hervorragende Basis. Mit dem Exzellenzcluster SimTech und sowie dem Zukunftscluster „Quantensensoren der Zukunft“ (QSens) existiert an der Universität Stuttgart zudem ein ideales Umfeld für diese innovative Forschung.
Über die ERC Advanced Grants
Die Projekte und Zuschüsse des Europäischen Forschungsrats sind in Kategorien aufgeteilt: ERC Starting Grants, ERC Consolidator Grants, ERC Advanced Grants und ERC Synergy Grants. ERC Advanced Grants zählen zu den renommiertesten Forschungspreisen weltweit und richten sich an etablierte Forschende mit einer herausragenden wissenschaftlichen Leistungsbilanz. Mit Prof. Bächtiger und Prof. Röhrle sind nun 12 laufende ERC-Grants an der Universität Stuttgart angesiedelt, davon fünf Advanced Grants.
Fachlicher Kontakt:
Prof. Dr. André Bächtiger, Universität Stuttgart, Institut für Sozialwissenschaften, Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung, Tel. +49 711 685 81450, E-Mail
Prof. Dr. Oliver Röhrle, Universität Stuttgart, Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme, Tel. +49 711 685 66284, E-Mail