Bohnenberg-Maschine als 3D-Darstellung

Digitales Leben für historische Navigationsgeräte

Im Rahmen des BMBF-Projekts „Gyrolog“ wurde die Kreiselsammlung der Universität Stuttgart digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Kreiselinstrumente oder, hier fachsprachlich genauer, Gyroskope gibt es heutzutage fast überall: In der Luftfahrt, auf Schiffen, in vielen Navigationssystemen, selbst im Handy – und an der Universität Stuttgart. In einem Keller der Professur für Flugmesstechnik schlummert eine der umfassendsten Sammlungen wissenschaftlicher Kreisel in Deutschland, wenn nicht gar in Europa.

Die Stuttgarter Kreiselsammlung mit ihren Tochtersammlungen an der TU München und der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz hat eine lange Geschichte. Auf- und ausgebaut wurde sie für Forschungs- und Lehrzwecke im Wesentlichen in den 1960er- und 1970er-Jahren durch Kurt Magnus, dem Leiter des damaligen Instituts für Mechanik, und seinem Mitarbeiter Helmut Sorg. Heute umfasst die Sammlung rund 200 Objekte mit verschiedenen Funktionen und aus unterschiedlichen Verwendungszwecken wie Schiffs- und Flugnavigation. Zu den bemerkenswerten Stücken zählen mehrere Exemplare des Kurskreisel LKu 4 von Siemens, der im Zweiten Weltkrieg unter anderem im Kampfflugzeug Ju 88 seine Dienste tat, drei klassische Kreiselkompasse der Firma Anschütz oder Komponenten des LN-3 Navigationssystem von Litton, das im skandalumwobenen „Starfighter“ verbaut wurde. „Kreisel sind typische dual use-Objekte“, erklärt Lehrstuhlinhaber Prof. Jörg F. Wagner, der die Sammlung schon seit seiner Zeit als junger Doktorand kennt. „Sie stehen paradigmatisch für hochmoderne Entwicklungen im Bereich von Alltagstechnologien, haben aber historisch auch eine eminente militärische Relevanz.“

Zwei Ausführungen des Kurskreisels Siemens LKu 4: Original (links), aufgeschnittenes Exemplar (rechts).

Objekte werden sichtbar und begreifbar

Bis vor nicht allzu langer Zeit funktionierten Kreiselgeräte nach dem Prinzip der legendären Bohnenberger-Maschine, dem sogenannten kardanisch gelagerten Kreisel, der um das Jahr 1810 erfunden wurde. Inzwischen hat die Digitalisierung Einzug gehalten und große mechanische Gyroskope sind in vielen Bereichen Geschichte. 

Original der Maschine von Bohnenberger (ergänzendes Objekt, Privatbesitz).

Besichtigen kann man die historischen Zeugen in Stuttgart allerdings nur eingeschränkt. Es fehlt an einem adäquaten Raum für die empfindlichen Instrumente, die zudem teilweise mit einer Leuchtfarbe gestrichen sind, die Radium enthält, also radioaktiv ist. Doch mit der Digitalisierung wird sich das ändern, die Exponate werden zugänglicher und sichtbarer. Und man kann sie ganz anders erleben. „Es ist unser Anspruch, die Objekte nicht nur als lebloses Ganzes abzubilden, sondern wir wollen auch Einblicke in das Innenleben der Instrumente geben und ihre Funktionsweise verdeutlichen“, sagt Wagner. „Die komplexen Geräte sollen – virtuell – begreifbarer werden.“

Interdisziplinärer Ansatz

Um diesen Anspruch einzulösen, verbinden die Partner*innen des interdisziplinären Projekts „Gyrolog“ Technikgeschichte als Geisteswissenschaft mit modernsten Methoden der Photogrammetrie und der Computertomographie als Ingenieurwissenschaften. Zunächst brauchten die Forschenden Fotoserien der Kreisel, die von Projektmitarbeiter Kun Zhan aufgenommen und ausgewertet wurden. Hierzu platzierte Zhan die Exponate auf einen neigbaren Drehtisch – als Halterungen dienten unter anderem Knet und Legosteine – und nahm jeweils kreisförmig um die einzelnen Objekte herum ganze Bilderserien auf, deren Aufnahmen sich überlappen. Damit aus diesen Bilddaten 3D-Punkte abgeleitet werden können, werden die Bildverbände durch SfM (Structure from Motion) positioniert, gegenseitig orientiert und anschließend in hochqualitative und kolorierte Punktwolken umgerechnet. Dies geschieht mit der am Institut für Photogrammetrie unter der damaligen Leitung von Altrektor Prof. Dieter Fritsch entwickelten Software SURE. 

Computertomograph mit einem Kreiselinstrument in der Mitte.

Innenaufnahmen per Computertomographie

Um Einblick in das Innere der Geräte zu gewähren, wurden diese teilweise geöffnet. Meist war dies jedoch nun unzureichend möglich, ohne die Geräte zu zerstören. Hier kamen Prof. Sven Simon vom Institut für Parallele und Verteilte Systeme (IPVS) und seine Mitarbeiter Gasim Mammadov und Timo Schweizer ins Spiel. 

Sie fertigten unzählige hochauflösende 2D-Röntgen-Aufnahmen mit einem Computertomographen an, für die dann mittels eigener 3D-Rekonstruktion die Volumendaten berechnet wurden. Zusätzlich werden die Objekte mit Metadaten versehen und semantisch angereichert, um weitere Daten, Funktionsprinzipien und die Verwendung der Exponate zu dokumentieren. Hierfür kommt die von der Universitätsbibliothek Stuttgart für 2D-Digitalisierung bereits intensiv genutzte Digitalisierungssoftware „Goobi“ zum Einsatz. Extra für Gyrolog wurde Goobi zusätzlich um die Darstellung von 3D-Objekten erweitert.

Dichte und heruntergetaktete Punktwolke (links) zur Vorbereitung der Extraktion markanter Punkte (rechts) als Stützstellen zur Fusion der Daten aus Photogrammetrie und Computertomographie. Dargestellt ist der Wendekreisel „Honeywell Golden Gnat“.

Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz

Der dual use-Charakter von Kreiselinstrumenten in der militärischen und zivilen Navigation öffnet die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz unter verschiedenen politischen Rahmenbedingen, wobei hier insbesondere der zeithistorische Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges von Bedeutung sind. Diese historischen Bezüge beschäftigen PD Dr. Beate Ceranski und die Doktorandin Maria Niklaus von der Abteilung Geschichte der Naturwissenschaften und Technik am Historischen Institut. Dabei erwies sich Niklaus auch aus persönlichen Gründen als Glücksfall für das Projekt: Die begeisterte Segelfliegerin kennt sich auch in der Geschichte der Luftfahrt sehr gut aus.

Inzwischen sind über 300 Objekte aus Stuttgart, München und Linz digital erfasst und können online aufgerufen werden. Die Gyrolog-Plattform ist als offenes System publiziert, so dass künftig weitere Digitalisate hinzugefügt werden können. Zudem wurde eine App entwickelt, mit der man sich die Objekte der Sammlung auf dem Smartphone erschließen und sogar eine Animation erzeugen kann.

Bei der digitalen Abschlusstagung im Januar 2021 stieß das Projekt unter den rund 80 Teilnehmenden auf sehr positive Resonanz. Prof. Wagner selbst denkt schon einen Schritt weiter: „Mit Gyrolog haben wir eine Daten- und Methodenbasis geschaffen, die man für andere Digitalisierungsprojekte für Forschungssammlungen nutzen kann“ freut sich der Wissenschaftler. „Das Schifffahrtsmuseum Bremerhaven hat schon angefragt.“

Das Projekt „Gyrolog – Aufbau einer digitalen Kreiselsammlung für historische und didaktische Forschung“ wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Förderlinie „eHeritage“ für 39 Monate gefördert. (Förderkennzeichen 01UG1774X).

Kontakt:

Prof. Dr. Jörg F. Wagner, Professur für Flugmesstechnik, Tel.  +49 711-685 67046, E-Mail

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