Was ist das Besondere an Ihrem Forschungs-Projekt?
Das Projekt wurde 2014/2015 von dem Institut für Zeitgeschichte München/Berlin und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld entwickelt, also von zwei Institutionen, die sich sowohl im wissenschaftlichen, als auch im nichtakademischen Bereich bewegen. Das breit angelegte Forschungsprojekt soll alle Lebenswelten von LSBTTIQ -Menschen in Baden und Württemberg im engeren Zeitraum von 1919 bis in die 1970er Jahre erforschen. Es umfasst die geografischen Veränderungen in Baden-Württemberg, die politischen Einschnitte und Veränderungen und eine Bevölkerungsgruppe, die bisher von der Geschichtsschreibung und auch von der akademischen Forschung in dieser Breite nicht beachtet wurde. Ungewöhnlich an diesem Forschungstitel ist die Verwendung der Begriffe „Lebenswelten“, „Repression“ und „Verfolgung“ in Verbindung mit einem demokratischen Staat, der Bundesrepublik Deutschland. Das Projekt besteht aus drei Modulen, die jeweils in einer Studie resultieren. Ein solches Ergebnis ist auch die kürzlich erschienene Studie von Dr. Julia Noah Munier "Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert".
Zum Zeitpunkt des Beginns des Forschungsprojekts hatte noch kein Bundesland in Deutschland die gesamte Fläche nach bestimmten Kriterien untersucht, was unser Forschungsprojekt zu einem Pilotprojekt und die Universität Stuttgart zur Vorreiterposition macht. Ungewöhnlich ist auch, dass neben der Finanzierung des damaligen Wissenschaftsministeriums, das Ministerium für Soziales und Integration zusätzlich eine Anschubfinanzierung für eine Webseite beigesteuert hat. Diese Projekt-Webseite fungiert als Austausch von außeruniversitärer und universitärer Forschung: Wichtiger Bestandteil sind Interviews mit Zeitzeug*innen, die nicht in der Opferrolle, sondern als konkrete Akteur*innen und als Teil der Landesgeschichte vorgestellt werden.
Damals bezeichneten sich Menschen in homosexuellen Beziehungen selbst nicht als schwul, lesbisch oder bi. Woran liegt das?
Hier kommt es zunächst auf die individuelle Geschichte der Person an. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass die Begriffe schlichtweg nicht überall bekannt waren: Der Begriff „homosexuell“ ist erst zur Jahrhundertwende populär geworden und die Begriffe „inter-“, „transgender“ oder „queer“ noch viel später. Andererseits hatten viele für ihr Empfinden keine Bezeichnung. Quellen, etwa aus der Zeit des Nationalsozialismus, verorteten diese Menschen ausschließlich im negativen Kontext und als Bedrohung für den Staat, weswegen sich viele Personen aus Selbstschutz nicht selbst mit diesen Begriffen bezeichneten. Sie selbst empfanden sich nicht als „staatsgefährdend“, setzten sich eben nicht gleich mit der dargestellten Personenkonstruktion. Abgesehen davon haben damals viele Menschen ihre sexuelle Orientierung gar nicht ausleben können. Solange es in der öffentlichen Diskussion keine wertungsfreie bis positive Möglichkeit gibt, einen Begriff für sich anzuwenden, leben viele Personen mit einem Begehren, für das sie keine Bezeichnung haben.
Sie unterscheiden zwischen der Geschichte schwuler Männer und lesbischer Frauen. Worin liegen die Unterschiede?
Es gibt hier drei Ebenen, die ineinandergreifen. Die erste Ebene ist die grundsätzliche Ausgangssituation von Frauen und Männern in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Die zweite Ebene ist, dass es bis auf ganz kurze Zeitabschnitte in der Neuzeit keine juristische Bestrafung lesbischer Liebe und gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Frauen oder Personen, die sich als Frauen definieren, gab, u.a. weil das damals für nicht so staatsgefährdend erachtet wurde. Und die dritte Ebene ist, dass es bis heute, unter anderem aufgrund der Tatsache, dass Frauen nicht dafür bestraft wurden, wenn sie Sex mit Frauen hatten, allgemein nur wenige Quellen zu Frauen gibt. In unserem Forschungsprojekt wird sich das dritte Modul mit den Frauen beschäftigen, beispielsweise damit, nach welchen Repressionsbestimmungen und nach welchen konkreten Gesetzten wir suchen müssen, die ganz konkret Frauen in dieser Hinsicht benachteiligt haben.
Mit welchen Fachdisziplinen arbeiten Sie und Ihr Kollegium zusammen, um Quellen ausreichend interpretieren zu können?
Das ist abhängig von der Zeit, die in den Fokus genommen wird. Wenn man zum Beispiel weiß, dass weibliche und männliche Homosexualität zu ganz bestimmten Zeiten in Deutschland als Krankheit galt und es gleichzeitig die Entwicklungen von Aversionstherapien gab, um diese Menschen zu „behandeln“, dann nimmt man das als Vorforschungsergebnis oder Vorstudienergebnis und muss sich im nächsten Schritt an die Universitätskliniken wenden. Da haben wir dann eine Zusammenarbeit mit mehreren Beteiligten und eine Hand voll neuer Disziplinen, mit denen sich eine Zusammenarbeit lohnt. Wenn es um alle Formen von Trans- geht, wäre zum Beispiel auch die plastische Chirurgie eine Anlaufstelle. Außerdem ist es immer eine gute Idee, Jurist*innen mit ins Boot zu holen. Sie befassen sich zum Beispiel mit der Frage nach einem weiteren Personenstandsgeschlechtseintrag, den es ja seit 2018 nun in Deutschland gibt. Im Prinzip, wenn Sie fragen mit welchen Disziplinen unsere Arbeit verschränkt ist, muss ich ganz klar sagen: mit allen.
Ist heute in der Gesellschaft immer noch eine Kluft zwischen Schwulen und Lesben zu verzeichnen?
Die Auswirkungen dieser Situation sind auf jeden Fall heute noch in allen Archiven und allen Institutionen, die in irgendeiner Form Geschichte in sich bergen, zu spüren. Ich glaube schon, dass sich das gerade im Wandel befindet, aber als Historiker*in schaut man doch eher in die Vergangenheit. Deswegen interessiert mich die Schnittstelle zum Heute und wie historische Forschung dazu führt, dass die Zukunft anders aussieht. Aus meiner Sicht sind die Selbstwahrnehmungen und Selbstbezeichnungen von lesbischen Frauen und schwulen Männern in vielen Fällen so unterschiedlich, dass man das oftmals schwer vergleichen kann. In den letzten 10-15 Jahren musste man allerdings auch eine Fragmentierung der Community feststellen, durch die sich einzelne Gruppen ausdifferenzierten und gleichzeitig eigene Räume gesucht haben. In unserem Vortrag am 21. Oktober 2021 an der Universität Stuttgart werden Dr. Julia Noah Munier und ich unter anderem über Räume für LBSTTIQ sprechen, darüber, wie selten und gefährdet sie lange Zeit waren, aber auch darüber, dass es heute weniger gemeinsame Räume für alle gibt, die natürlich auch ermöglichen würden, dass man unterschiedliche Personen kennenlernt. Stattdessen gibt es immer mehr dezidierte Räume. Das betrifft nicht nur Schwule, Lesben und Transpersonen, sondern die ganze Gesellschaft.
Zu Karl-Heinz Steinle
Die Fragen nach dem Neuen Menschen im sozialistischen Realismus der ehemaligen Sowjetunion, oder allgemeiner, Public History und, wie Forschung unsere gelebte Realität beeinflusst, damit beschäftigt sich der Slavist und Historiker Karl-Heinz Steinle. Steinle war zudem auch Managing Director des Schwulen Museums in Berlin und beteiligt am Aufbau des „Archivs der anderen Erinnerungen“ der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Erste Interviews mit Zeitzeug*innen begleiteten seit 2015 die Vorbereitung für die politische Diskussion um die Rehabilitierung der nach §175 StGB bestraften Männer. Die Stiftung arbeitet sehr eng mit dem Justizministerium zusammen und auch mit Zeitzeug*innen. An der Universität Stuttgart arbeitet Karl-Heinz Steinle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt „LSBTTIQ in Baden und Württemberg: Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland“. Die einzelnen Buchstaben stehen für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer.