Herr Hesse, in der Corona-Krise hat man gelegentlich den Eindruck, der Befund des Virologen hat in der Politik das letzte Wort. Wie steht es um Ihre Profession: Meinen Sie, Mathematikerinnen und Mathematiker könnten die besseren Politiker*innen sein?
Christian Hesse (CH): Nein, die meisten Mathematiker – hier und auch sonst immer m/w/d gemeint –, die ich kenne, wären wohl keine guten Politiker, ebenso wenig wie umgekehrt. Mathematiker, die sich mit der Analyse von Daten beschäftigen, sind allerdings meist gute Politikberater. Es hängt damit zusammen, dass Mathematikerinnen und Mathematiker Generalisten sind und sich ihre Methoden auf praktisch alle Gebiete anwenden lassen. Sinnvoll erhobene und kompetent analysierte Daten sind eine Schlüsselressource für sachgerechtes Handeln in der Politik, aber auch für jeden mündigen Staatsbürger: Der berühmte Science Fiction Autor H.G. Wells hat schon vor hundert Jahren vorhergesagt, dass statistisches Denken einst für das Leben so wichtig sein werde wie die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Heute ist das nicht mehr Science Fiction, sondern die Realität.
Früher dachte ich, Mathematik hätte kaum was mit dem Menschen zu tun. Diese Meinung habe ich geändert.
Prof. Christian Hesse
Sie persönlich haben ja zunächst einmal zwei Semester Medizin studiert. Jetzt schreiben Sie Bücher darüber, wie Mathematik dem Menschen den Alltag erleichtert. Kann man sagen, dass Sie den Wunsch, Menschen zu helfen, in die Mathematik mitgenommen haben?
CH: Meine Grundeinstellung ist es auf jeden Fall, irgendwie nützlich zu sein, mit dem was ich tue. Und das wollte ich auch umsetzen als ich von der Medizin zur Mathematik gewechselt bin. Das hat mich über die Jahre immer mehr zu anwendungsorientierten Fragestellungen gebracht. Gerade auch jetzt in der Corona-Pandemie. Früher dachte ich, Mathematik hätte kaum was mit dem Menschen zu tun. Diese Meinung habe ich geändert.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist es, Mathematik zu popularisieren. Dass Ihre Gedanken bei Medien und Menschen sehr beliebt sind, zeugt vom Erfolg. Erfahren Sie darüber hinaus gegenwärtig auch Resonanz aus Wirtschaft, Politik oder Industrie zu Ihren Berechnungen?
CH: Im Moment gibt es fast mehr Resonanz als ich bewirtschaften kann, gerade auch aus der Politik. Das personalisierte Verhältniswahlrecht für Bundestagswahlen ist auch mathematisch sehr komplex, gerade in Bezug auf die Wirkung einzelner Änderungsmaßnahmen. Als es um die Wahlrechtsreform ging, fand ich mich plötzlich in der Rolle des Mathematikers als Politikberater in Rechtsfragen.
2020 – Das Jahr der Zahlen
Während Zahlen lange Zeit das Image des Abstrakten hatten und viele Menschen eher ungern auf ihren Mathe-Unterricht in der Schule zurückblicken, haben Zahlen seit einem Jahr Hochkonjunktur. Die Gesellschaft blickt auf Zahlen, wertet Zahlen aus, wird gelenkt anhand von Zahlen. Kann die Zahlenaffinität langfristige Auswirkungen auf die Begeisterung für Mathematik haben?
CH: Ja, das denke ich. Und ich spüre es auch selbst am gestiegenen Interesse an meiner Art von Mathematik. 2020 war das Jahr von Corona. Aber Corona hat es auch zum Jahr der Zahlen gemacht. Für viele Menschen wurde es Teil der täglichen Routine, die neuen Fallzahlen und Inzidenzen zu verfolgen. Viele haben sich auch tiefer hineingefuchst, in R-Werte, gleitende Durchschnitte, exponentielles Wachstum und dergleichen. Die Menschen spüren, dass es wichtig ist, aus Daten die Informationen zu entschlüsseln, die sie beherbergen. Auch ist es wichtig, emotional aufgeladenen, wirklichkeitsverzerrenden Mythen fundierte Daten sachlich gegenüberstellen zu können.
Und auch für die Entwicklung der Impfstoffe spielte Big Data-Analytik eine entscheidende Rolle bei der Strukturerforschung des sogenannten Spike-Proteins. Datenkompetenz ist der Game-Changer für den Sieg über die Pandemie. Davon bin ich überzeugt.
Könnten Sie beschreiben, wie Sie selbst in Ihrer Arbeit vorgehen: Woher nehmen Sie Zahlen, wie dienen Sie Ihnen als Werkzeug und welches Ziel leitet Sie, etwa wenn Sie Berechnungen zu Aktien oder zur Sterblichkeit anstellen?
CH: Nehmen wir zum Beispiel Aktienkurse. An den Börsen dieser Welt treten riesige Finanzströme auf und damit auch riesige Datenströme. Die sind öffentlich zugänglich. Es ist für mich faszinierend zu versuchen, Muster, Strukturen und Zusammenhänge in diesen Daten zu finden. Ziel ist es dann etwa zu untersuchen, welche Art von Dynamik das Auf und Ab bei Aktienkursen hat. Oder die Frage zu beantworten, ob sich die Aktien vor einem großen Börsencrash in bestimmter Weise anders verhalten als in florierenden Börsen-Zeiten.
Und wie ist das im Vergleich mit anderen Datenflüssen vor Extremereignissen, etwa den seismografischen Messungen vor Erdbeben? Es stellt sich heraus, dass es strukturelle Ähnlichkeiten gibt.
Wenn ich eine neue Idee habe, pflanze ich die manchmal bei einer interessierten Studentin oder einem Studenten ein, die darauf aufbauend ihre Abschlussarbeiten schreiben können. Etwa die Dynamik von Aktienkursen mit Prozessen zu modellieren, die Zufallsstrukturen enthalten. Das bedeutet nicht, dass Aktienkurse zufallsbestimmt sind und der Zufall die Börsen beherrscht, sondern nur, dass sich Kurse so verhalten, als wenn das der Fall wäre und deshalb Werkzeuge der Wahrscheinlichkeitstheorie darauf angewendet werden können.
Mit Mathematik gegen Fake News
In den Titeln Ihrer Bücher finden sich neben den Worten „Wahrscheinlichkeitstheorie“ und „Stochastik“ auch Begriffe wie „Glück“ und „Leben“. Ist Mathematik eine philosophische Weise Welt wahrzunehmen?
CH: Ja. Man könnte mit einem Wortspiel sagen Mathematik ist „Ideologie“: Die Lehre von den Ideen. Mathematikerinnen und Mathematiker nehmen die Welt ideen- und problem-orientiert wahr. Von Problemen umgeben zu sein ist ihre Grundsituation. Quantitative Probleme wohlgemerkt. Wenn sie ein Problem gelöst haben, suchen sie sich gleich ein anderes. Es bedeutet natürlich auch, das Problem nicht auf Anhieb oder vielleicht überhaupt nicht lösen zu können. Oft braucht man viele Anläufe und muss manchmal nach langwierigen Versuchen in eine Richtung, bei der man auf Granit trifft, wieder ganz von vorne anfangen. Insofern gehört eine gut ausgeprägte Frustrationstoleranz auch dazu. Man sollte nicht annehmen, dass ein Mathematiker ein frustfreies Leben führt. Mathematik ist nun mal schwer.
Ein anderer wichtiger Aspekt ist auch, dass Mathematik eine Oase der Rationalität ist, gerade in der heutigen Zeit, in der so viel Irrationalität grassiert und Fake News zu alternativen Fakten erhoben wurden, liefert Mathematik tatsächliche Fakten. Das empfinde ich als sehr wohltuend.
Das Erleben von intellektueller Schönheit ist eine starke Motivation, um Mathematik zu betreiben.
Prof. Christian Hesse
Sie sprechen von der Schönheit der Mathematik und der Schönheit, die für Sie in bestimmten Schachzügen liegt. Können Sie die Schönheit beschreiben, die für Sie in Zahlen liegt?
CH: Letzten Endes ist es nichts anders als das Gefühl, das auch junge Schülerinnen und Schüler gegenüber der Mathematik haben. Das Verhältnis der allermeisten Grundschüler gegenüber der Mathematik ist nämlich noch positiv. Wenn man sie fragt warum, hört man öfter: »Weil alles so schön aufgeht« oder »Weil alles so gut zusammenpasst«. In gesteigerter Form können sich auch viele Profi-Mathematiker*innen daran berauschen, wie einzelne Gedankensplitter gerade richtig zusammenpassen, um zu einer filigranen Gesamtkonstruktion zu werden, bei der alles genau richtig aufgeht. Das Erleben von intellektueller Schönheit ist eine starke Motivation, um Mathematik zu betreiben. Allein aus Pflichtgefühl würde man es wohl nicht machen.
Mathematik als Refugium
Und inwiefern kann nun Mathematik helfen, glücklicher durch das Leben – auch in seinen Krisenzeiten – zu gehen?
CH: Am besten kann ich natürlich für mich sprechen: Mir hat die Mathematik dabei geholfen, für meine Fähigkeiten und insbesondere für die Grenzen meiner Fähigkeiten, einen Platz in der Welt zu finden. Und das ist schon sehr viel. Was die aktuellen Krisenzeiten betrifft, fällt es Mathematikern vielleicht sogar etwas leichter mit den Einschränkungen zurechtzukommen. Für sie ist es nämlich nicht ungewohnt, viele Stunden mit sich selbst allein zu verbringen. Das ist ja in gewisser Weise eine Art von selbstauferlegter Quarantäne, bzw., um es positiv zu sagen: ein Refugium. Denn sie denken dann über Probleme nach, die ihnen am Herzen liegen.