Unter dem Motto „FormFragen“ stand der 36. Deutsche Kunsthistorikertag, der seit nunmehr fast 40 Jahren vom 23. bis 27. März 2022 wieder einmal zu Gast an der Universität Stuttgart war. Mehr als 600 Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker aus dem In- und Ausland waren der Einladung gefolgt. Veranstaltet wurde der bundesweit größte Fachkongress seiner Art vom Verband der Deutschen Kunsthistoriker und dem Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart sowie – als Kooperationspartner – dem Institut der Architekturgeschichte der Universität Stuttgart und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.
FormFragen – Pandemie – Ukraine-Forum
Der Deutsche Kunsthistorikertag an der Universität Stuttgart war in vielerlei Hinsicht ein besonderes Event. Da war zum einen der Titel „FormFragen“, der schon im Vorfeld für Diskussionen gesorgt hatte. Da waren zum anderen die Pandemie und insbesondere der kurz zuvor ausgebrochene Krieg in der Ukraine.
„Innerhalb von zwei Wochen haben wir ein Ukraine-Forum hinzugeplant“, erzählen Prof. Dr. Daniela Bohde, die Leiterin des Instituts für Kunstgeschichte, und deren Stellvertreterin, Prof. Dr. Kerstin Thomas. Online wurden Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine zugeschaltet, die von der Zerstörung von Kunstwerken und Kulturdenkmalen berichteten. „Im Krieg werden auch Objekte zerstört, die für die kulturelle und nationale Identität der Menschen stehen“, betont Bohde.„Unter anderem mit Feuerlöschern, Verpackungs- und Dämmmaterialien wollen wir daher mithelfen, dass das kulturelle Erbe in Museen oder auch besonders gefährdete Glasfenster bewahrt werden können.“
Die Öffnung des Kunsthistorikertages nach Osteuropa war jedoch schon vorher geplant. Mit Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern aus Polen war erstmals eine Gastsektion auf dem Deutschen Kunsthistorikertag vertreten. „Unser Wissen um die Kunstgeschichte in West- und Südeuropa ist weit größer als im Osten und Norden“, erklärt Kerstin Thomas die Entscheidung für das osteuropäische Land.
FormFragen – 100 Jahre „Die Form“
Der Formbegriff sei seit den 1960er-Jahren in der Kunstgeschichte „stehen geblieben“, erklärt Daniela Bohde. Neues war angesagt, wie etwa die Beschäftigung mit Motiven und ihrer Bedeutung, dem sozialen Kontext und der Funktion von Kunst. „Formanalyse wird zwar weiter praktiziert, aber sie wurde nicht mehr systematisch fortentwickelt und methodisch reflektiert“, sagt Bohde und liefert damit den Grund, es im Rahmen des Deutschen Kunsthistorikertages ausgiebig zu tun: Wo stehen wir, wie gehen wir mit Formfragen um?
Gerade Stuttgart, so die Professorinnen, sei ein guter Ort dafür, stand doch in den 1920er-Jahren der Formbegriff im Zentrum der 1924 vom Deutschen Werkbund in Stuttgart veranstalteten Ausstellung „Die Form“ – das ist jetzt fast 100 Jahre her. Damals war man auf der Suche nach der guten Form, einer ohne Ornament, nackt, rein – der Weg sollte hin zu den Wurzeln führen, Kunst, Architektur und Warenproduktion miteinander versöhnt werden. Schon im Ersten Weltkrieg zeigte sich die nationalistische Aufladung des Formbegriffs: Nun sollte die deutsche Form triumphieren. „Unpolitisch war der Formbegriff nie“, betonen Bohde und Thomas, die mit dem Tagungsmotto, wie erhofft, ein kritisches Hinterfragen der Rolle der Form in der Kunstgeschichte anstoßen konnten und eine Diskussion darüber, wie heute über Form gesprochen werden kann.
Reales Event – große Freude
Als reales Event wurde der Deutsche Kunsthistorikertag von den Gästen wie auch den Veranstaltenden als großes Geschenk wahrgenommen. Bei der Eröffnung im Neuen Schloss in Stuttgart war die Freude greifbar. Der Rektor der Universität Stuttgart, Prof. Wolfram Ressel, hob in seinem Grußwort hervor, dass das Institut für Kunstgeschichte – eines der ältesten kunsthistorischen Institute in Deutschland – mit dem Deutschen Kunsthistorikertag einen erfolgreichen Beitrag für die kunstgeschichtliche Forschung an der Universität Stuttgart leiste und die Universität damit national als auch international als exzellenten Standort für die Geisteswissenschaften sichtbar mache. „Das Institut präsentiert sich klein aber fein, engagiert, breit aufgestellt und gut vernetzt“, sagte Wolfram Ressel und befand: Eigentlich sei es groß.
Kleines Institut – große Vernetzung
Tatsächlich ermöglichte die gute Vernetzung des Instituts für Kunstgeschichte ein imposantes Rahmenprogramm. In der Staatsgalerie, wo Promovierende parallel zu ihrer Arbeit ein Volontariat absolvieren können, fand eine Podiumsdiskussion zu Formfragen in der Architektur statt. Das Kunstmuseum Stuttgart öffnete seine Türen für die Abschlussfeier. Im Württembergischen Landesmuseum gab es Führungen für die Gäste und einen Empfang. Über viel positives Feedback konnten sich die Studierenden freuen, die zu Stadtführungen eingeladen hatten.
FormFragen – Material, Farbe und mehr
Im Verlauf von fünf Tagen wurden die „FormFragen“ in spannenden Programmpunkten aufgegriffen, die sich etwa mit der guten Form beschäftigten, die Formanalyse und Formfindung in Zeiten computergenerierter Architektur hinterfragten oder die Re-Form – Form und Formwandel in der mittelalterlichen Kunst. Einen interessanten Einstieg in das Thema boten Plena, in deren Verlauf etwa darauf eingegangen wurde, welche Rolle den Materialien und der Bearbeitung bei der Entwicklung von Formen zukomme, und welche Bedeutung Farbe habe. Wobei Letzteres besonders interessant im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Schwarz-Weiß-Fotografie ist. Diskussionspunkte waren ebenso die Beziehung von künstlerisch inspirierter Werkform und technischer, industrieller Produktion wie die Formen in globaler Perspektive. So gab etwa Inés de Castro, die Direktorin des Lindenmuseums Stuttgart, einen Einblick in die Museumsarbeit und erklärte etwa, dass im Umgang mit Objekten aus anderen Kulturen, speziell jener, die während der Kolonialzeit meist ohne kulturellen Kontext gesammelt wurde, nun nach deren Bedeutung zu suchen sei und es gelte, Getrenntes wieder zu vereinen.
„Es war ein anregendes Ereignis, das Stuttgart als Ort der Kunst und Kunstgeschichte in den Mittelpunkt gesetzt hat“, sagt Kerstin Thomas. Dank eines engagierten Teams habe das kleine Institut eine unglaubliche Energie zu entfalten vermocht und viele Anstöße geben können, freut sie sich. „Besonders stolz sind wir auf unsere studentischen Helferinnen und Helfer“, betont Daniela Bohde. „Wir wünschen uns jetzt, dass der Kunsthistorikertag eine belebende Wirkung in der Lehre hat und wir die Kooperationen mit der Architekturfakultät, der Akademie der Bildenden Künste und den Stuttgarter Museen intensivieren können.“
Im Rahmen des 36. Deutschen Kunsthistorikertages hat sich der Verband Deutscher Kunsthistoriker in Deutscher Verband für Kunstgeschichte umbenannt, und im Verlauf der Mitgliederversammlung wurde auch ein neuer Vorstand gewählt: Für die Amtszeit 2022 bis 2026 ist nun Prof. Dr. Kerstin Thomas Erste Vorsitzende.