Lisa-Marie Hinderer führt eine Schulklasse in einen dunklen Raum. Von der Decke zum Boden und von links nach rechts sind Schnüre durch den Raum gespannt, die von Schwarzlicht angestrahlt werden und weiß leuchten. Während die Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse vorsichtig zwischen den Fäden durchgehen, gibt Hinderer den Kindern den Hinweis, die Gummifäden genau zu beobachten. Diese bewegen sich an Knotenpunkten in verschiedene Richtungen, sodass die Betrachtenden die Orientierung verlieren und ihnen schwindelig wird.
Schwindel in der Kunst
Genau das sei das Ziel der Kunstschaffenden, deren Werke in der Ausstellung „Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 – 1970“ im Kunstmuseum Stuttgart präsentiert werden. „Das ist eine ganz besondere Ausstellung“, erklärt Hinderer. „Vertigo ist der medizinische Fachausdruck für Schwindel.“ Auf die Frage der Kunstgeschichtsstudentin, wie sich Schwindel anfühle, antworten die Schulkinder, dass Schwindel manchmal Spaß machen könne, es drehe sich alles und man wäre total verwirrt. Manchmal werde einem aber auch schlecht und man könne sogar Kopfschmerzen bekommen. Hinderer erklärt, dass die Kunstschaffenden sich gefragt haben: wie entsteht Schwindel? Antworten darauf haben sie in der Physik gefunden und deshalb physikalische Phänomene in ihre Kunstwerke eingebaut.
Wo steckt Physik in der Kunst?
Bei einem Kunstwerk werden zum Beispiel viele bunte Regenbögen auf den Boden reflektiert. Lisa-Marie Hinderer erläutert die physikalischen Regeln dahinter: „Strahler senden weißes Licht auf Prismen, die sich drehen. Diese spalten das weiße Licht in einzelne Farben auf. Eigentlich besteht das Licht, das wir jeden Tag sehen, aus Regenbogenfarben. Den Künstler hat interessiert, wie ein Regenbogen entsteht. Und er hat es nachgebaut, ohne dass es hier im Museum regnen muss.“ Das Kunstwerk „Großer Sprung in den Regenbogen“ kommt bei den Kindern so gut an, dass ein Schüler es sogar kaufen möchte. Dass sei leider nicht möglich, sagt Hinderer, aber jeder könne es schnell nachbauen: „Dazu musst du mit einer Taschenlampe einen Glaskörper anleuchten. Wenn du den Glaskörper drehst, dann entsteht ein Regenbogen.“
Das Spiel mit den Farben probiert die Klasse nach der Führung durch die Ausstellung selbst aus. Im Mitmach-Labor hat das Physikalische Institut der Universität Stuttgart verschiedene Stationen eingerichtet, wie einen Lichtmischer, mit dem man die Farben Rot, Grün und Blau mischen und bunte Schatten erzeugen kann, oder einen Bildschirm, auf dem die Kinder Anamorphosen malen können. Zwei Schülerinnen versuchen beispielsweise ihren Namen so zu schreiben, dass man ihn in einem verspiegelten Kegel oder Zylinder lesen kann.
„Das besondere an der Ausstellung ist, dass man den Zusammenhang zwischen Kunst und Wissenschaft sieht. Wenn man das normalerweise hört, dann fragt man sich, was hat das miteinander zu tun? Aber wenn man hier ist, die Kunst sieht und dann erklärt einem noch jemand was zu den Kunstwerken, dann versteht man die Verbindung und das ist wirklich super cool“, sagt Johannes Schust, der Physik an der Universität Stuttgart studiert. Er hat den Workshop im Mitmach-Labor mit entwickelt und erklärt der Schulgruppe, welche physikalischen Phänomene hinter den Kunstwerken stecken.
„Die Kunst ist nicht nur eine Blase“, ergänzt Hinderer. „Die Künstler beschäftigen sich mit Geschichte, Musik, Literatur, aber auch Wissenschaft. Ich finde spannend an dem Projekt, dass man beides zusammen sehen kann. Einerseits sehen, andererseits selber erforschen. Und besonders freut es mich, mit den Schulklassen in diese Räume reinzugehen und sie dann staunen zu hören.“
Berührungsängste abbauen
Das Mitmach-Labor zum Thema Op Art ist die zweite Kooperation zwischen dem Kunstmuseum und dem Physikalischen Institut der Universität Stuttgart. „Wir finden es sehr spannend, dass man Physik im Grunde überall entdecken kann“, sind sich Karin Otter und Robert Löw einig, die die Experimente vonseiten des 5. Physikalischen Instituts konzipiert haben. "Ich glaube, dass sich mit dem interdisziplinären Ansatz Berührungsängste abbauen lassen. So kann man hier Kunstinteressierten etwas Physik ganz visuell und ohne Formeln nahebringen", ist sich auch Marc Scheffler vom 1. Physikalischen Institut sicher, der seit einigen Jahren "Kunst und Physik"-Führungen anbietet und am Konzept des Mitmach-Labors mitgearbeitet hat.
In der Ausstellung konnte man beispielsweise durch einen Raum laufen, der abwechselnd rot oder blau angestrahlt wurde. In Wirklichkeit waren die Wände allerdings grün. „Nicht jeder entdeckt das Geheimnis hinter dem Kunstwerk. Es sei denn, er war zufällig im Mitmach-Labor“, verrät Otter. Dort kann man durch farbige Folien Papierkraniche ansehen und erraten, welche Farbe sie haben.
Die interdisziplinäre Ausrichtung der Ausstellung sei eine gute Möglichkeit mit Menschen ins Gespräch zu kommen, meint Otter. Daher plant sie für die Zukunft weitere Projekte, die Physik und Kunst verbinden.