Erstmalig wieder „in Präsenz“ fand zum Andenken an den ersten Bundespräsidenten am 12. Dezember 2022 die alljährliche Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung statt – und feierte mit gut 200 interessierten Gästen im Hörsaal 17.01 nicht weniger als ihr 25-jähriges Bestehen.
Warum die Heuss-Gedächtnisvorlesung an die Universität Stuttgart gehört
In seiner Begrüßung hob Rektor Wolfram Ressel hervor, dass Theodor Heuss, der an der damals noch „Technischen Hochschule Stuttgart“ lehrte und 1954 die Ehrendoktorwürde von ihr erhielt, sich selber als „Erzieher zur Demokratie“ bezeichnet habe. Dieses Selbstverständnis sei auch Maßstab für die Gedächtnisvorlesung.
Aber nicht nur Heuss‘ Wirken an der Technischen Hochschule sei Grund dafür, diese Kooperationsveranstaltung gemeinsam mit der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus durchzuführen, so Ressel. Schließlich habe die Universität Stuttgart einen „sehr ausgebauten und erfolgreichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich“. Nicht zu vergessen, dass Golo Mann, der die Reden des ersten Bundespräsidenten veröffentlichte, an der Universität Stuttgart gelehrt und geforscht habe.
Drei „dicke Begriffe“
Mit der Bemerkung, dass sich mit „Freiheit“, „Resilienz“ und „Krise“ gleich „drei dicke Begriffe“ im Vortragstitel fänden, schwor Isabel Fezer, die Vorsitzende des Vorstands der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, die Gäste auf das Thema des Abends ein, freilich mit einem augenzwinkernden „Darunter machen wir es nicht!“. Dabei ließ die Bürgermeisterin für Jugend und Bildung es sich nicht nehmen, selber vier Aspekte des Begriffs „Resilienz“ – frei nach der Definition des katholischen Theologen Martin Schneider – zu beleuchten: So bedeute Resilienz erstens, eine sich abzeichnende Krise nicht zu verdrängen; zweitens, dazu in der Lage zu sein, sich auf sie vorzubereiten; drittens, die Krise als neue Normalität anzuerkennen; und schließlich, die Bereitschaft zur Änderung oder Transformation.
Keine Zeit zum Aufarbeiten der Pandemie
Alena Buyx, Medizinethikerin (TU München) und Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, beteuerte gleich zu Anfang ihres Vortrags „Resilienz und Freiheit in der Krise“, dass sie vom 25-jährigen Jubiläum der Veranstaltung „Gott sei Dank erst eben erfahren“ habe. In Anbetracht dieses Datums und der Bedeutung der bisherigen Referent*innen wäre sie „sonst vielleicht gar nicht gekommen“. Sie fühle sich „tief geehrt“, in diesem Rahmen sprechen zu dürfen.
Nach dieser gelungenen Captatio benevolentiae gestand die Medizinethikerin, dass sie am liebsten einen anderen Vortrag gehalten hätte, einen Vortrag nach überwundener Krise. In ihm hätte sie den Dreiklang „Aufarbeiten (der Coronakrise), Lernen (aus ihr) und Heilung (von ihr)“ beleuchtet. „Wir hätten eine wunderbare, versöhnliche Zeit miteinander gehabt“, so Buyx.
Doch die Hoffnung auf diesen Dreiklang sei mit Ausbruch des Ukrainekrieges und der daraus resultierenden Energiekrise zunichtegemacht worden. Aufarbeitung, Lernen und Heilung: dazu sei es trotz der positiven Entwicklung der Pandemie nicht gekommen, dazu habe in der multiplen oder Permakrise schlicht die Zeit gefehlt.
Vulnerabilität, negative und positive Freiheit
Dies vorangeschickt, hielt Buyx nun also einen weniger versöhnlichen Vortrag und startete den Ritt durch schwieriges Terrain – voller tiefer Sorgen und „dicker Begriffe":
- Vulnerabilität: Hier fächerte Buyx auf: Neben der körperlichen Verletzlichkeit, die am Anfang der Pandemie im Vordergrund der Krisenbewältigung stand, gebe es auch die psychische, die ökonomische und soziale, deren Bedeutung zum Teil unterschätzt und erst spät erkannt worden sei.
- Freiheit: Indem sie sich zunächst für ihre vereinfachte Nutzung der Begriffe entschuldigte, führte Buyx aus, dass sie sich ein größeres Gleichgewicht zwischen der im klassischen Liberalismus definierten positiven „Freiheit zu“ und negativen „Freiheit von“ wünsche. Zwar sei die „Freiheit von“ zweifelsohne wichtig, um das Individuum zum Beispiel vor einem zu großen Zugriff des Staates zu schützen. Nehme diese Freiheitsform aber überhand, münde sie in einem mangelnden Pflicht- und Wir-Gefühl. Das gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Ausblick in Zuversicht
Gerade die psychische Verletzlichkeit, das sei eine der Lehren aus der Pandemie, müsse künftig besser und schneller erkannt werden, forderte Buyx. Dazu gehöre, dass auch der wachsenden Einsamkeit vieler Menschen entschieden entgegenzutreten sei. Ferner müssten die Medien die Aufgabe annehmen, Polarisierungen und Fake News stärker entgegenzuwirken, die gerade in Zeiten von Krisen grassieren und die Gesellschaft weiter auseinandertreiben. In diesem Zusammenhang seien auch Algorithmen neu zu programmieren, um Menschen aus ihren Informationsblasen herauszuholen. Nicht zuletzt müsse der „mismatch“ zwischen positiver „Freiheit zu“ und negativer „Freiheit von“, der die Referentin tief besorge, auch in juristischer Hinsicht angegangen werden.
Nach aller Problematisierung und allen Forderungen entließ die Referentin das Publikum jedoch nicht, ohne ihrer tiefen Zuversicht in die „lernende Demokratie“ Ausdruck zu verleihen. Die Lösungen lägen, so Buyx, auf dem Tisch, sie müssten „nur umgesetzt“ werden.