Wenn Freiheit und Fortschritt die Versprechen der Moderne sind, was bedeutet es dann für Gesellschaften, wenn sie zunehmend mit Verlusten konfrontiert werden - Verlusten, wie sie etwa aus dem Wandel der Arbeitswelt oder der Klimakrise resultieren? Und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die liberale Demokratie?
Im Rahmen der Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung am 11. Dezember ging Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Verlusten nach. Der mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnete Wissenschaftler sprach über „Verluste. Eine Herausforderung für die liberale Demokratie“.
Die westliche Gegenwartsgesellschaft sieht sich zahlreichen Verlusten gegenüber – das zeigte Reckwitz zum Einstieg seines Vortrags: vom Klimawandel, der mit Hitze, Feuer und Hochwasser einhergeht, über bedrohliche Pandemien bis hin zu sich ändernden Arbeitswelten, dem Verlust des Friedens in weiten Teilen der Welt oder der zunehmenden Anzahl an Hochbetagten, die zur gesellschaftlichen Herausforderung wird.
„Verluste widersprechen der modernen Gesellschaft“
Da Vergänglichkeit und Verluste jedoch seit jeher zentrale Bestandteile des Lebens sind, stellt sich die Frage, weshalb sie gerade für liberale Demokratien eine besondere Herausforderung darstellen. „Verluste widersprechen der modernen Gesellschaft, die am Fortschritt orientiert ist“, erklärte Reckwitz. Der Fortschritts-Imperativ lebe von der positiven Zukunftserwartung in allen Bereichen der Gesellschaft. „Die Kinder sollen es einmal besser haben.“ Auch Regierende verfolgten das Ziel, dass es der Bevölkerung immer besser gehe. Mehr Überfluss, mehr Freiheit – so laute die Devise der modernen Fortschrittsorientierung, gemäß derer es Verluste nicht geben darf.
Das Verlustparadox
Das Problem des Fortschritts jedoch – Reckwitz nennt es „Verlustparadox“: Er produziert Verluste, die es ohne ihn gar nicht gäbe. Man denke etwa an die KI, die Arbeitsplätze überflüssig macht, an die Deindustrialisierung und die damit einhergehende Landflucht, an die global vernetzte Gesellschaft, in der schon relativ kleine Dinge eine große Wirkung entfalten – vom Bankenkollaps bis zur Pandemie. Zu alledem reagiere nun auch noch die Erde auf die Handlungen des Menschen, und der menschliche Körper, ja, er altere trotz aller Optimierung und Perfektionierung.
Die positive Zukunftserwartung geht verloren
Das Versprechen, dass es den Menschen in der Zukunft einmal besser gehen werde, sei im 21. Jahrhundert brüchig geworden, führte Andreas Reckwitz aus. Angesichts der gehäuften Krisen nehme die positive Zukunftserwartung ab. Die Verlusterfahrungen der Modernisierungs-Verlierer und -Verliererinnen würden von populistischen Parteien aufgegriffen, die Verantwortliche und Gewinner benennen und mit der Vorstellung aufwarten, dass die Vergangenheit besser war und man diese wieder zurückgewinnen sollte, wie beispielsweise „Make America great again“ suggeriert.
Lösungsansätze
Verluste nicht zu verschweigen, sondern sichtbar zu machen, das ist einer der Lösungsansätze, die Andreas Reckwitz vorschlug, um der Problematik zu begegnen. „Wenn man die Verluste schließlich gar überwinden kann, macht das die Demokratie stärker“, betonte er. Der Glaube an den Fortschritt sollte nicht aufgegeben werden, befand der Soziologe, aber es sei angesagt, den Umgang mit Verlusten zu lernen, sich auf sie vorzubereiten und einen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern zu schaffen. „Mit Verlusten umzugehen ist grundsätzlich eine Herausforderung, aber auch eine Chance“, schloss Reckwitz seine Vorlesung, mit der er für viel Diskussionsstoff beim nachfolgenden Zusammensein im Hörsaalfoyer sorgte.