Ein Organismus ist komplizierter als alles, was die Ingenieure bauen
können", urteilte Nüsslein-Volhard bei ihrem Vortrag am 22. Januar. Zwar hätten
alle Zellen, die aus einer befruchteten Eizelle entstehen, das gleiche Erbmaterial.
Dennoch seien die unterschiedlichsten Moleküle, Zellen und Organe in jedem Lebewesen so
angeordnet, daß sie die ihnen zugeordnete Funktion erfüllen. Wie das möglich sei, habe
die Menschen schon lange beschäftigt, und auch jetzt gebe es auf diese Frage noch keine
abschließende Antwort.
Ein recht gut untersuchter Organismus sei das Haustier der
Genetiker", die Taufliege. Für ihre Arbeiten zur Entwicklung von Taufliegen ist die
Wissenschaftlerin zusammen mit zwei Kollegen im Jahr 1995 mit dem Nobelpreis für Medizin
ausgezeichnet worden. Um zu sehen, ob die an Insekten gemachten Beobachtungen auf andere
Lebewesen übertragbar seien, müsse man aber zunächst viel mehr über die Steuerung in
deren Zellen lernen, sagte die Genetikerin. Deshalb sei in ihren Labors zur Tau-fliege ein
Fisch als Versuchsobjekt hinzugekommen.
Am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie sucht die Arbeitsgruppe
Nüsslein-Volhards seit Beginn der neunziger Jahre nach den Erbinformationen, die aus
einem Zellhaufen einen Zebrafisch entstehen lassen. Diese Wirbeltiere seien ähnlich wie
die Taufliege besonders gut als Versuchsobjekte geeignet. Sie pflanzten sich schnell fort,
und ihre zahlreichen Nachkommen entwickelten sich in großen glasklaren Eiern. Was darin
in den ersten fünf Tagen nach der Befruchtung vor sich gehe, könnten die Wissenschaftler
schon bei geringer Vergrößerung in gewöhnlichen Mikroskopen betrachten.
Millionen von Eiern hätten sie schon beobachtet und nach Besonderheiten gesucht. An
Tieren, die vom Standard abweichen, lasse sich am besten erforschen, welche Gene dafür
sorgen, daß sonst alle Individuen einer Art gleich aussehen, erläuterte die Genetikerin.
Wo sich das Erbmaterial der Mutanten vom ursprünglichen Typ unterscheide, lägen die für
ihre Forschung interessanten Gene.
Um die Zahl ihrer Untersuchungsobjekte zu erhöhen, setzten die Wissenschaftler
Chemikalien ein, die das Erbmaterial leicht schädigen. 1200 Mutanten seien inzwischen
beschrieben. Wir können in den Fischen allerdings nicht gezielt Gene verändern,
und schon gar nicht die, die wir noch nicht kennen", erwiderte die Wissenschaftlerin
auf eine Zuhörerfrage.
Dino, Mercedes, Einstein, Keinstein oder Rolling Stones heißen einige der
Zebrafisch-Mutanten im Tübinger Labor. Ihre Namen beschreiben Eigenschaften, in denen
sich die Tiere von ihren Artgenossen unterscheiden. Dino beispielsweise benennt eine Form
mit dickem Schwanz und kleinem Kopf. Die verdoppelte Schwanzstruktur bei den Fischen des
Mercedes-Stammes erinnert hingegen, von hinten betrachtet, an einen dreiarmigen Stern. Im
einzelnen zu erklären, wie die Suche nach den Genen für diese auffälligen Merkmale vor
sich gehe, sei in einer Vorlesung nicht möglich, sagte Nüsslein-Vol-hard. Dieses Ziel
sei auch häufig noch gar nicht erreicht.
Einige Parallelen zwischen Taufliegen und Zebrafischen hätten die Forscher aber schon
entdeckt. So gebe es ein Gen, welches das Aussehen des Dino-Stammes hervorruft, in leicht
abgewandelter Form auch bei Fröschen und Fliegen. Einige Grundprinzipien bei der
Entwicklung seien also bei unterschiedlichen Organismen ähnlich. Genau das Gleiche
ist das natürlich nicht", schränkte die Wissenschaftlerin ein.
Ob sich Ergebnisse von Fliegen oder Fischen auch auf die Vorgänge in menschlichen
Zellen übertragen lassen, ist noch nicht geklärt. Ein vor kurzem in Tübingen neu
gegründetes Unternehmen untersucht unter anderem Gene, die bei Fischen die Versorgung mit
Blutgefäßen regeln. Falls die in Fischen wirksamen Stoffe auch in menschlichen Zellen
eine Rolle spielen, könnten sie in Zukunft vielleicht in der Medizin eingesetzt werden.
Wir sind da noch am hoffnungsvollen Anfang", sagte die an der Firmengründung
beteiligte Genetikerin.
Das letzte Dia des Vortrags war einem anderen Aspekt gewidmet: Vielleicht kann
man den Fisch auch nehmen, um etwas über Schönheit herauszufinden", meinte
Nüsslein-Volhard. Das Bild zeigte Mutanten mit verschieden gemusterten Schwanzflossen.
Eine breitgestreifte Variante nennen die Wissenschaftler Asterix und Obelix".
/op
*) Am 26. November 1997 gab Nobelpreisträger Prof. Dr. Bert Sakmann
(Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung, Heidelberg) Einblick in die Geheimnisse
des Gehirns (siehe Uni-Kurier Nr. 77/78 -
Nachrichten & Berichte).