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Stuttgarter unikurier Nr.79/Juni 1998
Denkmethode Mathematik:
Abstrakt - und darum anwendbar
 

Die Mathematik tut sich schwer mit ihrer Selbstdarstellung: Sie kann nicht so leicht auf Inhalte und Ergebnisse mit dem Finger zeigen. Entsprechend unsicher ist das Urteil über diese Disziplin. Meist ist es getragen von einem Gefühl des Respektes, der Überzeugung von ihrer Weltfremdheit und einer Ahnung von ihrer Wichtigkeit. Im folgenden Text möchte ich versuchen, das Bild dieser Disziplin aus meiner Sicht zu präzisieren.

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Mathematik = Problemlösungsmaschine?
Viele Menschen sehen die Mathematik als große Problemlösungsmaschine. Auf einer Seite hat sie viele Schlitze zum Einwurf der Probleme. Auf der anderen Seite kommt die Lösung heraus. Die Einwurfschlitze sind mit Formeln beschriftet: man muß nur den richtigen Schlitz finden. Weil die Mathematiker ihre Ergebnisse beweisen, kommt auf der anderen Seite auch garantiert das Richtige heraus - das ist sehr beruhigend. Die Mathematiker behaupten, für das Innere dieser Maschine bräuchten sie auch noch die reine Mathematik, aber die ist doch sehr abstrakt und von den Anwendungen weit entfernt. Mathematikausbildung schließlich bedeutet, das Bedienen dieser Maschine zu erlernen.

 

Strukturelle Ähnlichkeiten erkennen
Es ist schon wahr: Mathematikerinnen und Mathematiker sind dazu da, Probleme zu lösen. Aber eben nicht dadurch, daß sie vorgefertigte Formeln anwenden, sondern primär dadurch, daß sie ein Problem analysieren und verstehen. Erst im zweiten Schritt können sie Ausschau halten, ob ähnliche Probleme schon vorgedacht wurden und die Lösungen übertragbar sind. Der Unterschied zwischen der Mathematik und den meisten anderen Wissenschaften besteht darin, wie das Wort „ähnlich" verstanden wird. „Ähnlich" heißt nicht inhaltlich ähnlich, sondern strukturell ähnlich. Ihre Methode, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen inhaltlich verschiedenen Problemen zu erkennen, ist die Abstraktion. Auf ihr beruht die universelle Anwendbarkeit der Mathematik.

 

Reine und angewandte Mathematiker
Diese Vorgehensweise ist typisch für die ganze Mathematik. Dies macht eine Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik fragwürdig. Wohl aber gibt es reine und angewandte Mathematikerinnen und Mathematiker. Angewandte Mathematiker arbeiten sich in konkrete Fragestellungen der Praxis ein. Sie entwickeln mathematische Modelle und müssen, eng an der Fragestellung, einen Kompromiß finden zwischen noch akzeptabler Vereinfachung und mathematischer Lösbarkeit. Reine Mathematiker analysieren solche Modelle aus größerer Distanz. Sie sehen ab von problemspezifischen Details; stattdessen erforschen sie die inneren Strukturen und erkennen auf diese Weise strukturelle Ähnlichkeiten. So bereitet die Abstraktion den Boden für Anwendungen auch in ganz anderen Bereichen.

Die Verflechtung zwischen diesen beiden Vorgehensweisen ist für beide Seiten unverzichtbar. Sie ist Außenstehenden nicht leicht zu vermitteln; und Mathematiker sind selten bekannt für ihre Gesprächigkeit - nach außen. Doch nur der ständige Kontakt zwischen reinen und angewandten Mathematikern ermöglicht den Transfer von Wissen, Erfahrungen und Anregungen in beide Richtungen. Dies ist der Grund, weshalb sich viele Mathematiker so vehement gegen einen einseitigen Ausbau der sogenannten angewandten Mathematik wehren.

 

Festungsbau und Finanzmärkte
Ein Beispiel für diese Symbiose: Die moderne Geometrie hat ihre Wurzeln hauptsächlich in der darstellenden Geometrie. (Technisches Zeichnen war wichtig für den Festungsbau.) Daraus entwickelte sich im letzten Jahrhundert ein zentrales Gebiet der Mathematik. Durch die Einbeziehung von vier und mehr Dimensionen war jedoch der Bezug zur Anwendung immer weniger erkennbar. Und doch war die moderne Geometrie zu Beginn unseres Jahrhunderts gerade wegen der erreichten großen Allgemeinheit und Abstraktheit genau das Werkzeug, das Einstein vorfinden mußte, um seine Relativitätstheorien formulieren zu können. Die alte darstellende Geometrie war für die Mathematiker dagegen lange uninteressant, bis sie in den letzten Jahren mit dem Aufkommen von CAD eine unerwartete Renaissance erlebte. Da-ran war gerade auch die Stuttgarter Fakultät beteiligt.

Ein weiteres Beispiel: Einstein entwickelte eine Theorie der Brownschen Bewegung, die die Bewegung eines Teilchens unter dem Einfluß zufälliger Stöße mathematisch beschreibt. Die Mathematiker machten daraus ein zentrales Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie. Spezielle weiterführende Untersuchungen zur Martingaltheorie schienen jedoch so abgehoben, daß selbst die Mathematiker nicht an baldige konkrete Anwendungen glauben mochten - bis man erkannte, daß in der (geometrischen) Brownschen Bewegung ein gutes Modell für den Verlauf von Aktienkursen zur Verfügung steht. Aus der Martingaltheorie entstand die Black-Scholes-Formel, die die Finanzmärkte revolutionierte. Dafür wurde 1997 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften auch an den Mathematiker Robert C. Merton verliehen. - Die Liste solcher Beispiele ließe sich auf fast jedes Gebiet der Mathematik erweitern.

 

Organisation von Komplexität
Was muß eine Mathematikerin, ein Mathematiker können, um an solchen Entwicklungen erfolgreich mitwirken zu können? Eine Voraussetzung ist natürlich mathematisches Wissen. Dieses muß in den Grundlagen einigermaßen vollständig vorliegen. Darüber hinaus ist hochspezialisiertes Wissen erforderlich. Es liegt jedoch selten in genau der Form vor, in der es in der konkreten Anwendung gebraucht wird. (Dies anzustreben, würde die Ausbildung unverhältnismäßig aufblähen.) Das Wissen hat also häufig exemplarischen Charakter, und ein Mathematiker muß in der Lage sein, das Vorhandene selbständig an die konkrete Situation anzupassen. Daher ist neben der Wissensvermittlung die Einübung des selbständigen Umgangs mit Mathematik der zweite Pfeiler der Mathematikausbildung.

Ebenso wichtig: Die Beschäftigung mit Mathematik trainiert die Fähigkeit, auf eine spezifische Art und Weise strukturiert zu denken und Probleme zu analysieren. Bezeichnend dafür ist, daß viele Mathematiker in ihrem späteren Berufsleben kaum mit Mathematik im engeren Sinn umgehen. Ein typisches Beispiel ist die Unternehmensberatung: Viele Firmen stellen immer mehr Mathematiker in diesem Bereich ein, weil gerade sie präzise die Struktur eines Unternehmens analysieren und gegebenenfalls verbessern können. Mathematiker können überall dort erfolgreich arbeiten, wo für komplexe Probleme neuartige Lösungen auf der Basis von Strukturanalysen erarbeitet werden sollen. Das Mathematikstudium bereitet auf solche Tätigkeiten in hervorragender Weise vor, denn Mathematik ist Organisation von Komplexität. Übrigens: Wenn wir Mathematiker der Universität Stuttgart bei der Behandlung der Kapazitätsrechnungen helfen konnten, dann nicht durch den Einsatz komplizierter mathematischer Methoden, sondern durch die Strukturierung des Problems.

Vor diesem Hintergrund gestaltet die Mathematische Fakultät das Studium, sowohl innerhalb der Mathematik als auch im Servicebereich. Die Ausbildung soll Grundlagenwissen vermitteln, den selbständigen Umgang mit exemplarischem Wissen einüben und strukturiertes Denken schulen.

Dieser Text wollte versuchen, das Bild von der Mathematik als Formelmaschine genauso wie die Aufteilung der Mathematik in angewandte und reine Mathematik – oft identifiziert mit nützlicher und unnützer Mathematik - zurechtzurücken. Gerade auf der Abstraktheit und damit auf ihrem Abstand zum konkreten Problem beruht die Universalität der mathematischen Methode. Sie befähigt die Mathematiker, die immer komplexer werdenden Probleme der Praxis zu strukturieren, Ähnlichkeiten zu anderen Problemen zu erkennen und damit zu ihrer Lösung beizutragen.

Burkhard Kümmerer

 

KONTAKT
Prof. Dr. Burkhard Kümmerer, Arbeitsgruppe Operatorenalgebren und Quantenstochastik am Mathematischen Institut A, Pfaffenwaldring 57, 70569 Stuttgart, Tel. 0711/685-5364, Fax 0711/685-5375
e-mail: kuem@mathematik.uni-stuttgart.de

 

Zum Autor

 

Prof. Burkhard Kümmerer, der einer jüngeren Mathematiker-Generation angehört, ist seit 1995 an der Mathematischen Fakultät der Universität Stuttgart tätig. Vorher war er an der Universität Tübingen, wo er 1993 einen Landeslehrpreis erhielt.

Er befaßt sich sowohl mit Fragen aus der „reinen Mathematik" (Operatoralgebren) als auch mit Fragen der mathematischen Physik (Quantenwahrscheinlichkeitstheorie). Ihm ist - über Lehre und Forschung hinaus – die Öffnung der Mathematik und der Austausch mit den anderen Disziplinen ein besonderes Anliegen. Die Defizite auf diesem Gebiet wurden ihm deutlich bei seinen zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fakultäten während seiner Arbeit an den Kapazitätsrechnungen, die aufgrund des Solidarpaktes erforderlich wurden.

Über die Kapazitätsrechnungen berichtet Prof. Kümmerer in der Rubrik „Nachrichten & Berichte".

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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