Mathematik = Problemlösungsmaschine?
Viele Menschen sehen die Mathematik als große Problemlösungsmaschine. Auf einer Seite
hat sie viele Schlitze zum Einwurf der Probleme. Auf der anderen Seite kommt die Lösung
heraus. Die Einwurfschlitze sind mit Formeln beschriftet: man muß nur den richtigen
Schlitz finden. Weil die Mathematiker ihre Ergebnisse beweisen, kommt auf der anderen
Seite auch garantiert das Richtige heraus - das ist sehr beruhigend. Die Mathematiker
behaupten, für das Innere dieser Maschine bräuchten sie auch noch die reine Mathematik,
aber die ist doch sehr abstrakt und von den Anwendungen weit entfernt.
Mathematikausbildung schließlich bedeutet, das Bedienen dieser Maschine zu erlernen.
Strukturelle Ähnlichkeiten erkennen
Es ist schon wahr: Mathematikerinnen und Mathematiker sind dazu da, Probleme zu lösen.
Aber eben nicht dadurch, daß sie vorgefertigte Formeln anwenden, sondern primär dadurch,
daß sie ein Problem analysieren und verstehen. Erst im zweiten Schritt können sie
Ausschau halten, ob ähnliche Probleme schon vorgedacht wurden und die Lösungen
übertragbar sind. Der Unterschied zwischen der Mathematik und den meisten anderen
Wissenschaften besteht darin, wie das Wort ähnlich" verstanden wird.
Ähnlich" heißt nicht inhaltlich ähnlich, sondern strukturell ähnlich. Ihre
Methode, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen inhaltlich verschiedenen Problemen zu
erkennen, ist die Abstraktion. Auf ihr beruht die universelle Anwendbarkeit der
Mathematik.
Reine und angewandte Mathematiker
Diese Vorgehensweise ist typisch für die ganze Mathematik. Dies macht eine Unterscheidung
zwischen reiner und angewandter Mathematik fragwürdig. Wohl aber gibt es reine und
angewandte Mathematikerinnen und Mathematiker. Angewandte Mathematiker arbeiten sich in
konkrete Fragestellungen der Praxis ein. Sie entwickeln mathematische Modelle und müssen,
eng an der Fragestellung, einen Kompromiß finden zwischen noch akzeptabler Vereinfachung
und mathematischer Lösbarkeit. Reine Mathematiker analysieren solche Modelle aus
größerer Distanz. Sie sehen ab von problemspezifischen Details; stattdessen erforschen
sie die inneren Strukturen und erkennen auf diese Weise strukturelle Ähnlichkeiten. So
bereitet die Abstraktion den Boden für Anwendungen auch in ganz anderen Bereichen.
Die Verflechtung zwischen diesen beiden Vorgehensweisen ist für beide Seiten
unverzichtbar. Sie ist Außenstehenden nicht leicht zu vermitteln; und Mathematiker sind
selten bekannt für ihre Gesprächigkeit - nach außen. Doch nur der ständige Kontakt
zwischen reinen und angewandten Mathematikern ermöglicht den Transfer von Wissen,
Erfahrungen und Anregungen in beide Richtungen. Dies ist der Grund, weshalb sich viele
Mathematiker so vehement gegen einen einseitigen Ausbau der sogenannten angewandten
Mathematik wehren.
Festungsbau und Finanzmärkte
Ein Beispiel für diese Symbiose: Die moderne Geometrie hat ihre Wurzeln hauptsächlich in
der darstellenden Geometrie. (Technisches Zeichnen war wichtig für den Festungsbau.)
Daraus entwickelte sich im letzten Jahrhundert ein zentrales Gebiet der Mathematik. Durch
die Einbeziehung von vier und mehr Dimensionen war jedoch der Bezug zur Anwendung immer
weniger erkennbar. Und doch war die moderne Geometrie zu Beginn unseres Jahrhunderts
gerade wegen der erreichten großen Allgemeinheit und Abstraktheit genau das Werkzeug, das
Einstein vorfinden mußte, um seine Relativitätstheorien formulieren zu können. Die alte
darstellende Geometrie war für die Mathematiker dagegen lange uninteressant, bis sie in
den letzten Jahren mit dem Aufkommen von CAD eine unerwartete Renaissance erlebte. Da-ran
war gerade auch die Stuttgarter Fakultät beteiligt.
Ein weiteres Beispiel: Einstein entwickelte eine Theorie der Brownschen Bewegung, die
die Bewegung eines Teilchens unter dem Einfluß zufälliger Stöße mathematisch
beschreibt. Die Mathematiker machten daraus ein zentrales Gebiet der
Wahrscheinlichkeitstheorie. Spezielle weiterführende Untersuchungen zur Martingaltheorie
schienen jedoch so abgehoben, daß selbst die Mathematiker nicht an baldige konkrete
Anwendungen glauben mochten - bis man erkannte, daß in der (geometrischen) Brownschen
Bewegung ein gutes Modell für den Verlauf von Aktienkursen zur Verfügung steht. Aus der
Martingaltheorie entstand die Black-Scholes-Formel, die die Finanzmärkte revolutionierte.
Dafür wurde 1997 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften auch an den Mathematiker
Robert C. Merton verliehen. - Die Liste solcher Beispiele ließe sich auf fast jedes
Gebiet der Mathematik erweitern.
Organisation von Komplexität
Was muß eine Mathematikerin, ein Mathematiker können, um an solchen Entwicklungen
erfolgreich mitwirken zu können? Eine Voraussetzung ist natürlich mathematisches Wissen.
Dieses muß in den Grundlagen einigermaßen vollständig vorliegen. Darüber hinaus ist
hochspezialisiertes Wissen erforderlich. Es liegt jedoch selten in genau der Form vor, in
der es in der konkreten Anwendung gebraucht wird. (Dies anzustreben, würde die Ausbildung
unverhältnismäßig aufblähen.) Das Wissen hat also häufig exemplarischen Charakter,
und ein Mathematiker muß in der Lage sein, das Vorhandene selbständig an die konkrete
Situation anzupassen. Daher ist neben der Wissensvermittlung die Einübung des
selbständigen Umgangs mit Mathematik der zweite Pfeiler der Mathematikausbildung.
Ebenso wichtig: Die Beschäftigung mit Mathematik trainiert die Fähigkeit, auf eine
spezifische Art und Weise strukturiert zu denken und Probleme zu analysieren. Bezeichnend
dafür ist, daß viele Mathematiker in ihrem späteren Berufsleben kaum mit Mathematik im
engeren Sinn umgehen. Ein typisches Beispiel ist die Unternehmensberatung: Viele Firmen
stellen immer mehr Mathematiker in diesem Bereich ein, weil gerade sie präzise die
Struktur eines Unternehmens analysieren und gegebenenfalls verbessern können.
Mathematiker können überall dort erfolgreich arbeiten, wo für komplexe Probleme
neuartige Lösungen auf der Basis von Strukturanalysen erarbeitet werden sollen. Das
Mathematikstudium bereitet auf solche Tätigkeiten in hervorragender Weise vor, denn
Mathematik ist Organisation von Komplexität. Übrigens: Wenn wir Mathematiker der
Universität Stuttgart bei der Behandlung der Kapazitätsrechnungen helfen konnten, dann
nicht durch den Einsatz komplizierter mathematischer Methoden, sondern durch die
Strukturierung des Problems.
Vor diesem Hintergrund gestaltet die Mathematische Fakultät das Studium, sowohl
innerhalb der Mathematik als auch im Servicebereich. Die Ausbildung soll Grundlagenwissen
vermitteln, den selbständigen Umgang mit exemplarischem Wissen einüben und
strukturiertes Denken schulen.
Dieser Text wollte versuchen, das Bild von der Mathematik als Formelmaschine genauso
wie die Aufteilung der Mathematik in angewandte und reine Mathematik oft
identifiziert mit nützlicher und unnützer Mathematik - zurechtzurücken. Gerade auf der
Abstraktheit und damit auf ihrem Abstand zum konkreten Problem beruht die Universalität
der mathematischen Methode. Sie befähigt die Mathematiker, die immer komplexer werdenden
Probleme der Praxis zu strukturieren, Ähnlichkeiten zu anderen Problemen zu erkennen und
damit zu ihrer Lösung beizutragen.
Burkhard Kümmerer
KONTAKT
Prof. Dr. Burkhard Kümmerer, Arbeitsgruppe Operatorenalgebren und Quantenstochastik am
Mathematischen Institut A, Pfaffenwaldring 57, 70569 Stuttgart, Tel. 0711/685-5364, Fax
0711/685-5375
e-mail: kuem@mathematik.uni-stuttgart.de
Zum Autor
Prof. Burkhard Kümmerer, der einer jüngeren Mathematiker-Generation
angehört, ist seit 1995 an der Mathematischen Fakultät der Universität Stuttgart
tätig. Vorher war er an der Universität Tübingen, wo er 1993 einen Landeslehrpreis
erhielt.
Er befaßt sich sowohl mit Fragen aus der reinen Mathematik"
(Operatoralgebren) als auch mit Fragen der mathematischen Physik
(Quantenwahrscheinlichkeitstheorie). Ihm ist - über Lehre und Forschung hinaus die
Öffnung der Mathematik und der Austausch mit den anderen Disziplinen ein besonderes
Anliegen. Die Defizite auf diesem Gebiet wurden ihm deutlich bei seinen zahlreichen
Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fakultäten während seiner Arbeit an
den Kapazitätsrechnungen, die aufgrund des Solidarpaktes erforderlich wurden.
Über die Kapazitätsrechnungen berichtet Prof.
Kümmerer in der Rubrik Nachrichten & Berichte".