Theodor Heuss-Vorlesung 2014


Plädoyer für mehr Bildung

Theodor Heuss-Gedächtnis-Vorlesung 2014, 16.12.14

Mit den „Dimensionen sozialer Ungleichheit in Europa“ befasst sich Jutta Allmendinger seit Jahren wissenschaftlich – und präsentierte im Rahmen ihres Theodor Heuss-Gedächtnis-Vortrags an der Universität Stuttgart Mythen, Fakten und Ansatzpunkte, die damit zusammenhängen. „Das Thema hat es in sich“, führte Gabriele Müller-Trimbusch am 8. Dezember in den Vortrag ein. „Denn Ungleichheiten sind allgegenwärtig“, sagte die langjährige Sozialbürgermeisterin und Vorstandsvorsitzende der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Grund genug für eine Schwerpunktreihe der Stiftung in den kommenden beiden Jahren mit Podiumsdiskussionen, Vorträgen und Ausstellungsführungen, die mit der Gedächtnis-Vorlesung eröffnet wurde.

 

Mythos vom Miteinander der wirtschaftlichen und sozialen Union

Jutta Allmendiger, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität Berlin, räumte mit drei großen Mythen auf, die mit der Gründung der Europäischen Union zusammenhingen. Dabei sei zwar die Wirtschaft im Vordergrund gestanden, im Hinterkopf habe man aber immer auch eine weitere Dimension gehabt. „Doch das Miteinander der wirtschaftlichen und sozialen Union ist ein Mythos“, sagte sie. Die Lebenssituationen hätten sich weder zwischen den Ländern noch innerhalb dieser angeglichen, die Schere zwischen Arm und Reich ginge immer weiter auseinander. Die Professorin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung untermauerte das mit vielen Zahlen aus ihren Forschungsbereichen. Kinder aus ärmeren Familien etwa würden, trotz gleicher Fähigkeiten wie die aus reicheren Elternhäusern, seltener fürs Gymnasium empfohlen oder für ein Studium. „Wir haben keine Chancengerechtigkeit, vor allem nicht in Deutschland.“ Ein Grund sei, dass die Politik hierzulande viel zu spät damit begonnen habe, in frühe Bildung zu investieren.

 

Keine Entwicklung zwischen den Generationen

Allmendinger verglich auch Zahlen anderer Länder. So hätte etwa ein Großteil der älteren Portugiesen keinen weiterführenden Bildungsabschluss, bei der Generation der 25- bis 34-Jährigen habe sich dies gebessert, es habe also einen Fortschritt in dieser Hinsicht gegeben – anders als in Deutschland. Auch bei den Hochschulabschlüssen sei keine Entwicklung zwischen den Generationen sichtbar, Deutschland liege da im unteren Drittel in der EU. Auf diesen Punkt hatte zu Beginn auch Uni-Rektor Prof. Wolfram Ressel hingewiesen. Es gebe mittlerweile zwar die Möglichkeit für beruflich Qualifizierte, zu studieren, was auch einige schon wahrnehmen: „Das ist gut so. Aber das ist nicht ausreichend.“ Kritik übte Allmendinger auch an den vielen Zertifikaten, die gerade hierzulande lange Zeit inflationär verteilt worden und gerankt worden seien. Diese sagten aber wenig über die tatsächlichen Kompetenzen zum Beispiel in der Lesefähigkeit aus. Der Anteil der Bildungsarmen sei mit 15 Prozent viel zu hoch. Denn diese Menschen blieben nicht nur besonders häufig den Wahlen fern, sie hätten häufig auch mit schwierigen wirtschaftlichen Situationen zu kämpfen. Anhand von Beschäftigungszahlen zeigte sie, wie sehr eine geringe Bildung mit einem geringen Einkommen und relativ unsicheren Arbeitsverhältnissen zusammenhängt. „Wir prämieren Bildung nach wie vor hoch“, sagte sie über den Vergleich etwa mit Schweden, wo es nur wenig Unterschiede in den Nettoeinkommen von Akademikern und geringer Gebildeten gebe.

 

Bildung besser als spätere Sozialleistungen
Allmendinger präsentierte aber nicht nur Zahlen, sondern auch Lösungsansätze. „Die Ungleichheit im Einkommen ist niedriger, wenn die Gewerkschaften stark sind“, sagte sie. Auch sei früher die Schere zwischen Arm und Reich nicht so weit auseinandergeklafft, weil die Besserverdienenden stärker besteuert worden seien und eine bessere Umverteilung stattgefunden hätte. Zudem brauche man Zuwanderung. Insgesamt gesehen müsse man aber vor allem in Bildung investieren. Das komme auf lange Sicht den Staat auch günstiger als spätere Sozialleistungen, zudem kurbelten höhere Einkommen den Konsum an. „Wir können es uns aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, so viele zurückzulassen. Wir brauchen ein soziales Europa. Das tut auch dem wirtschaftlichen Europa gut.“